# taz.de -- Pflege-Anwälte im Interview: „Die Arbeitgeber können blockieren… | |
> Öffentliche Unternehmen kämpfen in Berlin heute mit denselben Mitteln wie | |
> private Firmen, so die Anwälte Daniel Weidmann und Benedikt Rüdesheim. | |
Bild: Streiken geht nur mit Notdienstvereinbarung: Kundgebung in Berlin im Augu… | |
taz: Herr Weidmann, Herr Rüdesheim, zum Streikauftakt der Berliner | |
Krankenhausbewegung hat der kommunale Krankenhauskonzern Vivantes den | |
Arbeitskampf seiner Beschäftigten durch zwei einstweilige Verfügungen | |
kurzfristig verbieten lassen. Sie haben die Beschäftigten der | |
Vivantes-Tochtergesellschaften vor dem Berliner Arbeitsgericht vertreten – | |
wann dürfen Krankenhausbeschäftigte streiken – und wann nicht? | |
Daniel Weidmann: Das Streikrecht ist ein Grundrecht und Grundrechte gelten | |
in Deutschland für alle Beschäftigten. Bei Streiks in Krankenhäusern muss | |
aber auch etwa die Sicherheit der Patient:innen gewährleistet sein. | |
Deshalb werden bei Krankenhausstreiks Notdienstvereinbarungen getroffen, | |
die die Versorgung sicherstellen. | |
Wie wird so eine Vereinbarung getroffen? | |
Weidmann: Man muss jede Abteilung durcharbeiten. Es kommen weiter Kinder | |
zur Welt, weshalb es Personal in den Kreißsälen braucht. Auch die | |
Notaufnahme muss besetzt sein. Eine Nasen-OP kann dagegen auch mal | |
verschoben werden. Notdienstvereinbarung bedeutet: Der Betrieb wird bis auf | |
das unerlässliche Maß eingeschränkt. | |
Und wenn keine Einigung zustande kommt? | |
Benedikt Rüdesheim: Die Rechtsprechung ist da nicht einheitlich. In Berlin | |
wurde ein Streik auch schon so lange untersagt, bis eine | |
Notdienstvereinbarung getroffen wurde. Die Arbeitgeberseite kann dann | |
natürlich einfach blockieren. Wir können nur spekulieren, ob dies auch die | |
Strategie von Vivantes war. | |
Weidmann: Nach Auffassung der meisten Gerichte ist es in solchen Fällen | |
aber Sache der Gewerkschaft, den Notdienst sicherzustellen. Andere Gerichte | |
legen den Notdienst selbst fest. Das kann man aber alles nicht vernünftig | |
erörtern, wenn ein Richter so etwas kurz vor dem Wochenende ohne mündliche | |
Verhandlung entscheidet. So ist das aber geschehen, als der Streik in den | |
Tochtergesellschaften vorläufig verboten wurde. | |
Rüdesheim: Es ist grundsätzlich schwierig, weil das Streikrecht nur im | |
Grundgesetz, im Europarecht und in verschiedenen internationalen Abkommen | |
geregelt ist. Darüber hinaus gibt es gar keine Gesetze. Alle Vorgaben gehen | |
nicht aus Gesetzen, sondern aus der vergangenen Rechtsprechung hervor. | |
Weidmann: Weil im Grundgesetz nicht viel steht, mussten die | |
Richter:innen kreativ sein und daraus ihre Schlüsse ziehen. So hat sich | |
in Arbeitskampffragen bereits in den 1950er Jahren ein „Richterrecht“ | |
herausgebildet, das leider auch durch die Nazivergangenheit und den | |
vehementen Antikommunismus vieler Richter – Gendern ist hier unnötig – | |
geprägt war. So hat sich in der frühen Bundesrepublik ein ausgesprochen | |
restriktives Streikrecht entwickelt. Aber das nur am Rande. | |
Notdienstarbeiten sind ja einleuchtend. | |
Mit welcher Begründung wollte Vivantes die Streiks verbieten? | |
Rüdesheim: Im Verfahren zu den Tochtergesellschaften hatte die | |
Arbeitgeberseite sich beschwert, dass der von Verdi zugesicherte Notdienst | |
nicht ausreiche. Das Gericht hat daraufhin gesagt, dass die | |
Arbeitgeberseite selbst über den Notdienst entscheiden darf. Dagegen haben | |
wir Widerspruch eingelegt, weil das, was Vivantes vorgelegt hat, in weiten | |
Teilen der normalen Besetzung entsprochen hätte. Letztlich haben wir uns | |
vor Gericht auf eine Notdienstvereinbarung geeinigt. Im Verfahren der | |
Muttergesellschaft hatte das Gericht den Streik komplett untersagt, weil es | |
der Meinung war, dass Verdi keinen Notdienst zugesichert hätte. Vor Gericht | |
hat Verdi diese Zusage dann dargelegt. Das Gericht hat das eingesehen und | |
den Streik erlaubt. | |
Weidmann: Die streikenden Krankenhausbeschäftigten sind ja sehr | |
verantwortungsbewusst. Für das Wohl der Patient:innen zu kämpfen ist | |
doch genau ihr Anliegen, hat oberste Priorität – auch ohne | |
Notdienstvereinbarung. | |
Berichten zufolge mussten Charité-Beschäftigte ihre Streikteilnahme | |
absagen, weil Betten und Stationen trotz vorheriger Streikankündigung nicht | |
geräumt worden waren. Ist das legal? | |
Rüdesheim: Die Gewerkschaft kann zwar sagen: Während des Streiks kommen | |
soundso viele Beschäftigte nicht. Wie aber ein Krankenhaus seinen Betrieb | |
organisiert, bleibt Sache der Klinikleitung. Natürlich ist das moralische | |
Erpressung, wenn Betten nicht geräumt werden. Justiziabel ist es aber wohl | |
nicht. | |
Vor Gericht wurde auch erörtert, ob Verdi mit dem geforderten Tarifvertrag | |
Entlastung – TV E – gegen die sogenannte Friedenspflicht verstößt. Was | |
bedeutet das? | |
Weidmann: Wird ein Tarifvertrag abschlossen, soll auch erst einmal Ruhe | |
sein. Vivantes hat jetzt gesagt, dass die Streikforderungen bereits im | |
Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes geregelt seien. Verdi widerspricht. | |
Da wir in diesem Verfahren nicht mandatiert sind, möchte ich mich dazu | |
ungerne inhaltlich äußern. Merkwürdig ist die Chronologie der Ereignisse | |
aber schon. Das Ultimatum der Beschäftigten lief 100 Tage, und dann reicht | |
die Klinikleitung am letztmöglichsten Tag eine einstweilige Verfügung ein? | |
Als Richter hätte ich gesagt: Das fällt Ihnen etwas spät ein. | |
Rüdesheim: Letztlich hat der Richter wohl auch genau das gesagt: Für ein | |
einstweiliges Verfügungsverfahren müsste schon ein wirklich | |
offensichtlicher Verstoß vorliegen. Den sehe er nicht, deshalb wurde der | |
Streik auch erlaubt. | |
Weidmann: Ein Arbeitskampf ist eine ruppige Auseinandersetzung. Politisch | |
interessant ist aber, dass öffentliche Unternehmen in Berlin heutzutage mit | |
denselben Bandagen kämpfen wie ganz normale profitorientierte Unternehmen. | |
Dabei wäre gerade von ihnen ein anderes Verhalten zu erwarten. | |
4 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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