# taz.de -- Mehr Züge auf dem Land: Jugend ohne Bahn | |
> In Obernkirchen (Landkreis Schaumburg) fährt die Regionalbahn nur ab und | |
> zu für Touristen. Manche vor Ort wollen das ändern. Ein Besuch. | |
Bild: Leben auf dem Land: Ohne Auto undenkbar? | |
OBERNKIRCHEN taz | Thomas Stübke kommt auf dem Fahrrad den kurzen Weg von | |
Obernkirchens Innenstadt herauf zum Bahnhof. Er trägt ein schickes, enges | |
Sakko, ist nach dem Absteigen vorm kleinen Bahnhofsgebäude schnellen | |
Schrittes unterwegs, an seinem modernen Treckingrad hängen schwarze | |
Seitentaschen. Nur vorn klemmt eine kleine Blume an seinem Lenker. Mehr | |
alte Ökoklischees sind bei ihm auf den ersten Blick nicht zu erkennen. | |
Inzwischen ist er ein wenig ergraut, aber so habe ich Stübke auch noch in | |
Erinnerung aus der Zeit, als ich in den 90ern und 2000ern in | |
[1][Obernkirchen] aufwuchs. Da saß er schon im Stadtrat – als einziger | |
Grüner inmitten einer SPD-Hochburg war er wegen seiner Parteizugehörigkeit | |
lange Zeit auf einem einsamen Posten. Beharrlich gab er in ernsten Worten | |
Widerspruch in den örtlichen Debatten, gehört wurden seine Argumente nach | |
meiner Erinnerung kaum. | |
Stübke schiebt sein Fahrrad um den roten Backsteinbau des Bahnhofs zur | |
Eingangstür des kleinen Warteraums, sein Blick fällt prüfend auf die davor | |
liegenden Gleise. Dort steht eine ältere Frau und rupft Unkraut aus dem | |
Kiesbett. „Wo kommt das nur immer her?“, fragt sie und wirft den Löwenzahn | |
in einen Eimer. | |
Im linken Teil des Bahnhofsgebäudes mit seinen roten Backsteinfassaden | |
eröffnete vor einigen Jahren ein Kulturcafé. Ob das denn hier im Ort, von | |
der Pandemiezeit mal abgesehen, denn funktioniert? „Hier funktioniert | |
eigentlich gar nichts gut“, sagt Stübke seufzend. Sein Ziel, die | |
Reaktivierung der Gleise vor dem Obernkirchener Bahnhof, scheint noch immer | |
in weiter Ferne zu liegen. | |
## 20 Kilometer Gleis | |
Vor rund 35 Jahren hat Stübke sich erstmals damit auseinandergesetzt, die | |
alte Bahnstrecke wieder zu reaktivieren. Sie führt jeweils rund zehn | |
Kilometer in beide Richtungen: rechts nach Rinteln. Dort gibt es einen | |
Regionalverkehr weiter nach Hameln und nach Ostwestfalen. Nach links, | |
Richtung Stadthagen, führen die Gleise zur Zugtrasse zwischen Hannover und | |
Bielefeld. | |
Wir befinden uns hier im [2][Landkreis Schaumburg], etwa mittig zwischen | |
den beiden Großstädten. Vor allem nach Hannover pendeln viele aus dem | |
Landkreis zur Arbeit. „Künftig soll es für die Pendler:innen aus | |
Rinteln, Obernkirchen und Stadthagen stündlich eine Verbindung nach | |
Hannover geben“, sagt Stübke. | |
Sich dafür einzusetzen, diese Bahnstrecke zu reaktivieren, ist bei ihm der | |
Kampf gegen ein Dogma, das in der Region herrscht: „Die ‚Freie Fahrt für | |
freie Bürger‘-Mentalität ist hier stark verankert“, sagt Stübke. Lange Z… | |
habe es in der Gegend fast keinen Gebrauchtwagenmarkt gegeben. „Hier wurde | |
immer gleich ein neues Auto gekauft.“ | |
Stübke arbeitet beim [3][Landesamt für Geoinformation und Landesvermessung] | |
in Hannover, er ist da zuständig für Digitalisierung. Begeisterung für | |
historische oder aktuelle Zugtechnik habe er überhaupt nicht, beteuert er. | |
„Mir geht es hierbei einzig um die Mobilitätswende.“ Seit 2010 geht dafür | |
ein Großteil seiner Freizeit drauf, erzählt er am Holztisch im | |
Bahnhofshäuschen bei einem Kaffee. Ob das zu seinem Lebensprojekt geworden | |
ist? „Das muss man wohl so sagen.“ | |
## „Busfahren ist verpönt“ | |
Wer in Obernkirchen und den umliegenden Dörfern aufwächst, dem wird eine | |
tiefe Abscheu vorm örtlichen öffentlichen Personenverkehr eingeprägt. Zur | |
Schule ging es in überfüllten Bussen, in der Freizeit – etwa um ins | |
Schwimmbad zu kommen oder Freund:innen in den anderen Orten zu besuchen – | |
hat man den Bus grundsätzlich nicht genommen. | |
„Das ist hier in der Region verpönt“, bestätigt Stübke. Den Bus nehmen d… | |
die sich kein Auto leisten können. Er ist eine Zeit lang mit dem Bus zur | |
Arbeit gefahren. „Jemanden im Anzug oder anderer Berufsbekleidung habe ich | |
da drin nie gesehen“, sagt er. Eigentlich seien es nur Schüler:innen | |
gewesen, die morgens mit ihm fuhren. | |
Als Heranwachsender bleiben einem zum Ausgehen in dieser Kleinstadt nur | |
ein, zwei Kneipen – bei dem man den Altersschnitt durch seinen Besuch | |
massiv senken würde. Wer in die umliegenden Städte – Bückeburg, Rinteln und | |
Stadthagen – wollte, brauchte nette große Geschwister oder Eltern, die | |
einen im Auto kutschierten. | |
Gerade an den Wochenendabenden waren lange Diskussionen vorprogrammiert. | |
Irgendein Elternteil der Clique hätte uns immer nur bis spätestens | |
Mitternacht noch aus den umliegenden Städten abgeholt. So früh wollten wir | |
natürlich nie nach Hause, eher frühmorgens. | |
Die Taxis, die wir dann notgedrungen nehmen mussten, haben uns wohl einen | |
niedrigen vierstelligen Betrag gekostet, bis wir 18 wurden und reihum | |
diskutierten, wer diesmal fährt. Die Idee, wenigstens den Hinweg mit dem | |
Bus zu fahren, kam uns gar nicht in den Sinn. | |
## Schienen vor'm Atemstillstand | |
Und das Fahrrad war fast nie eine Alternative: Dafür ist die Gegend nicht | |
platt genug und E-Bikes waren noch nicht mal eine Zukunftsvision. Und wer | |
abends in dieser Landschaft auf einem Fahrrad unterwegs war, konnte sich | |
sicher sein, dass die Dorfpolizist:innen einen bei ihrer Patrouille | |
anhalten würden. Geschichten von abgenommenen Führerscheinen wegen | |
alkoholisierten Fahrradfahrens gab es zuhauf. | |
Stübke will diese Zustände ändern. Er will den Busverkehr umkrempeln – mehr | |
Verbindungen, weg von festen Abfahrtzeiten und hin zum flexiblen | |
Anrufsystem mit kleinen, mobileren Minibussen. Und er will dieser alten | |
Verbindungsachse auf dem Gleis Leben einhauchen. Denn die Schienen sind | |
kurz vorm Atemstillstand: | |
Im Jahr 2010 beschloss der Landkreis, die Strecke endgültig stillzulegen. | |
1960 war das letzte Mal ein Zug für den Personenverkehr die Strecke | |
gefahren. Seitdem gab es nur noch vereinzelten Güterverkehr. Der Landkreis | |
sah darin keinen Sinn mehr. Eine lose Idee war, die Strecke zu einem | |
Fahrradweg umzuwandeln. „Ich bin ja passionierter Fahrradfahrer, aber ich | |
war vollkommen dagegen“, sagt Stübke. | |
Vorher gab es schon einen Förderverein, in dem sich die | |
Bahnanhänger:innen für den Erhalt beziehungsweise für die | |
Reaktivierung einsetzten. Doch um die Umsetzung des Beschlusses zur | |
Stilllegung zu verhindern, gründeten Stübke und einige weitere Mitglieder | |
des Vereins kurzerhand eine GmbH, um die 20 Kilometer lange Strecke vom | |
Landkreis zu pachten und in Betrieb zu halten. | |
Das stoppte die Umsetzung des Beschlusses bislang erfolgreich. Allerdings | |
ist der Betrieb bis heute überschaubar: Neben touristischen | |
Wochenendfahrten gibt es entlang der Strecke eine Handvoll Firmen, die ab | |
und an Güter verladen: Holz, zum Beispiel, oder Kies. Kostendeckend ist das | |
kaum. | |
## Betrieb vor dem Aus | |
„Wir stehen an der Kippe, ob wir das Engagement noch aufrechterhalten | |
können“, sagt Stübke. Ein bis zwei Jahre halte die Gesellschaft vielleicht | |
noch durch, dann sei Schluss. Geld verdiene damit niemand, eine kleine | |
Aufwandsentschädigung zahlt die GmbH aus. Aber es kommt auch kaum Geld | |
hinein. | |
Der historische Schienenbus befährt zu touristischen Zwecken an einigen | |
Sonntagen in den Sommermonaten die Strecke – ein Gutschein für so eine | |
Fahrt ist hier in der Region immer auch ein beliebtes Geburtstagsgeschenk | |
an Eltern und Großeltern. Von Rinteln an der Weser geht es über das | |
Wesergebirge teils steil durch kleine Dörfer und entlang des Bückebergs | |
nach Obernkirchen. Von dort, rechts und links gesäumt von Feldern, tuckert | |
der Schienenbus Stadthagen und damit den Beginn der norddeutschen Tiefebene | |
an. | |
Auch an diesem Sonntag soll wieder eine Fahrt stattfinden. Allerdings nur | |
auf halber Strecke: Die erste Brücke kurz hinter dem Obernkirchener Bahnhof | |
ist sanierungsbedürftig und wurde im letzten Jahr von einem Statiker für | |
den Personenverkehr und schweren Güterverkehr gesperrt – Einsturzgefahr. | |
„Deshalb geht es nur von Rinteln nach Obernkirchen und wieder zurück“, sagt | |
Stübke. | |
## 1.000 Pendler täglich | |
Die Gesellschaft kann die Kosten für die Sanierung nicht aufbringen, der | |
Landkreis will es auch nicht. Vor sechs Jahren ergab eine in Auftrag | |
gegebene Studie, dass sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Reaktivierung | |
nicht rechnet. 1.000 Menschen würden die Bahn täglich nutzen, doch die | |
Kosten des Betriebs seien dafür zu hoch. | |
„Einen CO2-Preis hat damals niemand miteingerechnet“, sagt Stübke. Außerd… | |
sei es ja so, dass die reaktivierte Bahnstrecke im Kreis Bentheim nun | |
deutlich mehr Menschen nutzten als prognostiziert. Geld für eine neue | |
Studie wollen bislang weder der Landkreis noch das Land bezahlen. | |
Würde ich noch hier wohnen, würde ich die Bahnstrecke, wäre sie | |
reaktiviert, wohl nur selten nutzen. Ich hätte ein Auto und die | |
Infrastruktur dafür ist einfach unfassbar gut – sie ist im Laufe der | |
Jahrzehnte autogerecht entwickelt worden. Als in Obernkirchens Innenstadt | |
in den vergangenen drei Jahrzehnten immer mehr Geschäfte schlossen, öffnete | |
die Stadt die Fußgängerzone für den Autoverkehr – um mehr Menschen mit | |
kurzen Wegen anzulocken. Geholfen hat es kaum. | |
Derzeit braucht der Bus für die Strecke von Stadthagen nach Rinteln laut | |
Fahrplan zwischen 48 und 62 Minuten. Eines Tages soll die Zugfahrt weniger | |
als 30 Minuten dauern. Aber reicht das schon, um die Macht des Autos zu | |
brechen? Dass sich daran so schnell etwas ändert, glaubt Stübke nicht. „Das | |
ist die Realität hier vor Ort“, sagt er achselzuckend. Aber es ist nun mal | |
sein Lebensprojekt – für dessen Realisierung es zum jetzigen Stand mehr | |
denn je einen langen Atem braucht. | |
15 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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