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# taz.de -- Zugverbindungen auf dem Land: Alte Strecken, neue Liebe
> In Niedersachsen könnten 36 stillgelegte Bahnstrecken reaktiviert werden,
> sagen Grüne und Fahrgastverbände. Die Regierung lege die Hände in den
> Schoß.
Bild: Sonntagsfahrten für Ausflügler gibt es mit dem Moorexpress, wie hier am…
Hamburg taz | Früher waren Bahnstrecken auf jeder Landkarte zu sehen. Heute
muss man schon die Ansicht großzoomen, um zum Beispiel die zarten grauen
Linien von Harpstedt nach Delmenhorst zu entdecken. Die beiden Orte
verbindet nicht nur ein Fluss, die Delme, sie sind auch durch 25 Kilometer
Eisenbahnlinie verbunden, die nur für Güterverkehr genutzt wird. In
Harpstedt gibt es Pendler in Richtung Delmenhorst und Bremen, heißt es
[1][in einer Broschüre, die die niedersächsischen Grünen] im Juli
vorgestellt haben. „Eine Reaktivierung der Bahnstrecke würde auf großes
Interesse der Bevölkerung treffen.“
36 Bahnstrecken führt der verkehrspolitische Sprecher der Grünen
Landtagsfraktion, Detlev Schulz-Hendel, in der Broschüre auf. „Das
Potenzial für die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken in Niedersachsen
ist sehr groß“, sagt er. Deshalb sei es höchste Zeit, dass [2][die
schwarz-rote Landesregierung „die Bremsen löst“]. Denn mehr Angebote im
öffentlichen ländlichen Raum belebten auch die Nachfrage danach.
Die Namen der Orte, die an diesen Strecken liegen, sagen dem Großstädter
wenig – kein Wunder, wenn seit den 1970ern kein Zug mehr hinfährt. Wenn der
pensionierte Pastor Wolfgang Konukiewitz vom Nahverkehrsbündnis
Niedersachsen die Bahnhofs-Orte nennt, klingt das etwas ehrfurchtsvoll, als
spräche er von alten Stars. So [3][verbindet der „Moorexpress“], der im
Sommer von Bremen aus Richtung Stade fährt, Orte wie Osterode, Nordsode,
Brillit, Basdahl oder Fredenbek, es geht durch das Teufelsmoor und vorbei
am einstigen Künstlerdorf Worpswede.
Für die Reaktivierung der alten Strecken gebe es „eine Bewegung von unten“,
sagt Konukiewitz. Eine junge Generation von Bürgermeistern wolle für ihre
Orte den Anschluss an die Bahn. Ein feingliedriges Netz von Strecken, deren
Schienen noch vorhanden sind, könnte nicht nur helfen, den Autoverkehr zu
reduzieren – immerhin leben mehr als die Hälfte der Deutschen im ländlichen
Raum –, es könnte auch die Ansiedlung junger Menschen auf dem Land
befördern. In Lüneburg zum Beispiel könnten Studierende, die in der Stadt
keine Wohnung finden, in umliegende Orte ziehen. Schulz-Hendels Broschüre
führt gleich zwei Zugstrecken auf, die von der einstigen Salzhandelsstadt
aus in andere Orte führen und wiederbelebt werden können. Die
Instandsetzung könne in kurzer Zeit erfolgen, heißt es in der
Grünen-Broschüre.
Von 2013 bis 2017, als in Niedersachsen die Grünen mitregierten,
untersuchte die „Landesnahverkehrsgesellschaft“ 74 stillgelegte Zugstrecken
auf ihr Potenzial. Nur drei davon schafften es damals in die Endauswahl:
die Zugstrecke von Bentheim nach Neuenhaus, eine kurze Strecke nahe
Göttingen von Einbeck-Salzderhelden nach Einbeck-Mitte. Und als dritte eine
Zugstrecke von Buchholz über Maschen, vorbei an Jesteburg nach
Hamburg-Harburg.
Die ersten zwei Strecken sind heute wieder im Betrieb. Die dritte Strecke
konnte aus technischen Gründen nicht wiederbelebt werden, weil dort noch
bis 2027 eine Art Brücke zur Kreuzung von parallel laufenden Gleisen gebaut
werden muss.
## 3,8 Millionen eingesparte Autokilometer im Jahr
Das Zauberwerk, das der Entscheidung für oder gegen eine Bahnstrecke
zugrunde liegt, [4][nennt sich „Nutzen-Kosten-Rechnung“]. Für die Strecke
von Buchholz über Maschen nach Harburg zum Beispiel rechneten die Prüfer
etwa 1.000 zusätzliche Zugfahrten am Tag, 3,8 Millionen eingesparte
Autokilometer im Jahr sowie die Einsparung von 65.000 Stunden Reisezeit und
242 Tonnen CO2 im Jahr. Diese Zahlen wurden in Geld umgerechnet und mit
Investitionskosten verrechnet. Unterm Strich lag das so errechnete
„Nutzen-Kosten-Verhältnis“ über dem Wert eins, also schien es
volkswirtschaftlich lohnend.
Die etwas längere Strecke von Lüneburg nach Soltau hätte mehr Einwohner mit
mehr Arbeitsplätzen erreicht, mehr Reisezeit, CO2 und Autofahrten gespart,
kam aber bei höheren Betriebskosten und Investitionen auf ein negatives
Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Doch diese früher verwendete „standardisierte Bewertung“ sei „schräg, w…
sie ländliche Räume benachteiligt“, sagt Detlev Schulz-Hendel. Das weiß
auch die Bundesregierung, die bis 2030 die Fahrgastzahlen auf der Schiene
verdoppeln und den Güterverkehr dort um 25 Prozent erhöhen will. Anfang
2020 hat sie darum das „Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ novelliert.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat angekündigt, die Förderung
zunächst auf eine Milliarde Euro jährlich und ab 2025 auf zwei Milliarden
jährlich zu erhöhen, wovon Niedersachsen etwa 200 Millionen Euro bekäme.
Die Gesetzesnovelle schreibt auch vor, dass die „standardisierte Bewertung“
überarbeitet wird. Umwelt- und Klimaschutz, die Daseinsvorsorge und die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sollten „stärker berücksichtigt
werden“, heißt es aus dem Scheuer-Ministerium. Doch wie das
niedersächsische Verkehrsministerium der taz mitteilt, hat der Bund im
April 2021 für diese Überarbeitung ein „aufwändiges Verfahren mit
wissenschaftlicher Begleitung“ gestartet. Laut den
Landtags-Regierungsfraktionen von SPD- und CDU ist mit endgültigen
Ergebnissen „voraussichtlich erst in ein bis zwei Jahren zu rechnen“.
## Neidisch auf Baden-Württemberg
Die Grünen, das Nahverkehrsbündnis und auch der Verkehrsclub Deutschland
(VCD) werfen der niedersächsischen Landesregierung vor, die Hände in den
Schoß zu legen. „Es gibt hier einen Stillstand“, sagt Wolfgang Konukiewitz.
„Niedersachsen macht gar nichts“, sagt Schulz-Hendel. Sogar von
SPD-Politikern aus Kommunen höre er Klagen darüber, dass sie ihre
Machbarkeitsstudien selbst zahlen müssen. Er sei richtig neidisch auf
Baden-Württemberg. „Die haben angekündigt, dass sie bis Ende 2021 32
Strecken zur Bundesförderung anmelden werden“.
Das Land wolle „stillgelegte Gleise zu neuem Leben erwecken“ und den
öffentlichen Nahverkehr bis 2030 verdoppeln, teilt das
Baden-Württembergische Verkehrsministerium mit. Reaktivierungen der
Vergangenheit zeigten, dass diese „viel attraktiver sind, als angenommen
wurde“. Um die Fördermittel optimal einzusetzen, habe man eine
„vergleichende Potentialuntersuchung“ durchgeführt und für mehr als 30
Strecken ein „relevantes Fahrgastpotential“ entdeckt. Nun fördert im
„Ländle“ das Verkehrsministerium „Machbarkeitsstudien“ für die einzel…
Gemeinden.
In Niedersachsen dagegen müssen die Landkreise das Geld für solche Studien
selbst aufbringen. Das allerdings ist noch nicht das Problem: „An Geld
mangelt es nicht, aber an gutem Willen“, sagt Grünen-Politiker Detlev
Schulz-Hendel, der auch Vize-Bürgermeister von Amelinghausen ist, das an
einer der stillgelegten Bahnstrecken nach Lüneburg liegt.
Die Bemühungen zur Bahn-Reaktivierung sei unter Niedersachsens aktueller
Landesregierung „nahezu zum Erliegen gekommen“, sagt Hans-Christian
Friedrichs vom Verkehrsclub Deutschland. Dabei sei allen bewusst, dass
angesichts des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 24. März zum
Klimaschutz Handlungsbedarf besteht. Friedrichs: „Wir erwarten, dass
zumindest die Initiativen der Landkreise, Städte und Gemeinden finanziell
gefördert werden, die durch eigene Gutachten die wirtschaftliche
Reaktivierung von Strecken nachweisen wollen.“
Die Grünen haben dazu im Landtag zwei Anträge gestellt, die im zuständigen
Ausschuss schmoren. So solle die SPD-CDU-Regierung Machbarkeitsstudien
finanziell fördern, die bis rund 100.000 Euro kosten können. Zudem soll sie
schnellstmöglich wie Baden-Württemberg eine „landeseigene Konzeption“
entwickeln, um Strecken zur Bundesförderung anzumelden. Dafür solle sie
einen „überparteilichen Lenkungskreis“ einrichten, wie es ihn unter
Rot-Grün von 2013 bis 2017 schon einmal gab. Und schließlich solle sie sich
im Bund dafür einsetzen, dass die standardisierte Bewertung sofort
überarbeitet wird.
Die Regierungsfraktionen von SPD und CDU weisen die Kritik zurück: Es
würden doch immerhin einige Projekte umgesetzt und weitere geprüft, sagt
der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Christos Pantazis. Die
Sprecherin des niedersächsischen Verkehrsministeriums Laura Gosciejewicz
führt fünf Strecken auf, an denen sich etwas tut oder tun könnte. So soll
2027, nach dem Bau der fehlenden Brücke, die Aktivierung der Strecke
Buchholz – Harburg „möglich sein“. Auch werde man bei Vorliegen der
Voraussetzungen für eine 1,7-Kilometer-Strecke zwischen
Salzgitter-Lebenstedt und Salzgitter-Fredenberg Bundesmittel akquirieren.
Ferner prüfe man eine Aktualisierung der Bewertung der Strecke von
Braunschweig-Gliesmarode nach Harvesee unter der Bedingung eines
Halbstundentakts. Als viertes Projekt soll die bereits gut genutzte Strecke
von Bentheim nach Neuenhaus ins niederländische Coevorden verlängert
werden. Und schließlich haben der Landkreise Lüneburg und der Heidekreis
eine erneute Bewertung der Strecke Soltau-Lüneburg-Bleckede beauftragt.
Für die meisten Forderungen der Grünen sei es jedoch zu früh, heißt es aus
den Regierungsfraktionen. Eine erneute breite „Reaktivierungsuntersuchung“
sei erst sinnvoll, wenn die Förderbedingungen durch den Bund feststünden,
sagt Ministeriumssprecherin Laura Gosciejewicz.
In einem eigenen Antrag fordern CDU- und SPD-Fraktion die Landesregierung
auf „mit Nachdruck“ für deren rasche Überarbeitung der „standardisierten
Bewertung“ zu sorgen, und nach dessen Abschluss den von den Grünen
geforderten Lenkungskreis wieder einzusetzen. Die Fraktionen rechnen damit
in ein bis zwei Jahren. Bis dahin bringen sie als „Zwischenlösung“ die
Förderung von Landesbuslinien ins Gespräch.
## Machbarkeitsstudien sind machbar
Das [5][Scheuer-Ministerium hat allerdings angekündigt, bis Ende 2021 mit
der Überarbeitung fertig] zu sein. Auf Nachfrage der taz erklärt eine
Sprecherin: „Die Länder können mit vorbereitenden Maßnahmen wie zum
Beispiel Machbarkeitsstudien beginnen, weil diese unabhängig von dem
derzeit sich in Erarbeitung befindlichen Verfahren des Bundes benötigt
werden.“ Dies werde vom Bund auch „seit Längerem so gegenüber den Ländern
kommuniziert“.
Wolfgang Konukiewitz, mit seinen 80 Jahren ein begeisterter Bahnfahrer,
vermutet, dass die Zurückhaltung der Landesregierung noch andere Gründe
hat. „Niedersachsen ist Autoland. Die fürchten die Konkurrenz der Bahn.
Autoland will keine Bahn.“ Die Politiker älteren Typs wollten das Auto
nicht aufgeben. „Für die ist Bahn etwas für arme Leute.“
Doch bei einem Punkt könnte es schon früher eine Verständigung geben: bei
den „touristischen Verkehren“. Quer übers Land gibt es 14 verschiedene
Linien, größtenteils von Bahnliebhabern initiiert – wie den
[6][„Heideexpress“ durch die Lüneburger Heide] oder [7][den Zug mit dem
Namen „Kaff-Kieker“], der immer sonntags von Syke über die Dörfer nach
Eystrup fährt. „Es geht hier nicht um Museumsbahnen“, erläutert
Konukiewitz. Diese touristischen Verkehre, bei denen oft das Rad mit in die
Züge genommen werde, um damit zurückzufahren, seien ein „wichtiger
Vorläufer für die Strecken-Reaktivierung“.
Grüne und Fahrgastverbände fordern, dass diese Linien vom Land
Niedersachsen aus „bestellt“ werden, sodass auch finanzielle Risiken
abgemildert und Fahrpreise günstiger werden. Immerhin regen nun auch CDU
und SPD eine „gesonderte Förderung“ touristischer Schienenverkehre an.
Vielleicht wird es ja doch noch was mit dem Bahnverkehr in Niedersachsen.
16 Aug 2021
## LINKS
[1] https://www.fraktion.gruene-niedersachsen.de/fileadmin/docs/publikationen/R…
[2] https://www.detlev-schulz-hendel.de/presse/meldung/jetzt-die-bremsen-loesen…
[3] https://www.kulturland-teufelsmoor.de/erlebniswelten/attraktionen/moorexpre…
[4] https://www.mw.niedersachsen.de/download/96000/Praesentation_Lenkungskreis_…
[5] https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2021/066-scheuer-reakt…
[6] https://www.heide-express.de/
[7] https://www.vgh-hoya.de/bahn/kaffkieker.html
## AUTOREN
Kaija Kutter
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