Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zugverbindungen auf dem Land: „Lieber jetzt starten als warten“
> Der Ausbau der Bahnverbindungen in Niedersachsen kommt zu langsam voran,
> sagt Verkehrsexperte Philipp Kosok. Es braucht viel mehr Geld.
Bild: Sorgt für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse: Ausbau des länd…
taz: Herr Kosok, wer entscheidet über die Reaktivierung von Schienen?
Philipp Kosok: Bei Strecken für Regionalbahnen sind meist die Länder
verantwortlich. Die sind die ersten Ansprechpartner, sie entscheiden, ob
auf einer Strecke überhaupt Bahnverkehr stattfinden soll und benennen dann
weitere Institutionen, die das umsetzen. Wenn auf einer Strecke auch Güter-
oder Fernverkehr stattfinden soll, kann dies aber auch der Bund
entscheiden.
Wenn ein Land sich also für eine Reaktivierung entscheidet, was passiert
dann als nächstes?
Erst mal würde man gucken, in welchem Zustand die Strecke ist. Das ist sehr
unterschiedlich. Einige muss man nur sanieren, [1][weil sie noch recht gut
erhalten sind]; anschließend würde man eine Ausschreibung für die Linie
machen und einem Bahnunternehmen den Zuschlag geben, welches dort in ein
oder zwei Jahren fahren kann. Oft ist es so, dass die Infrastruktur auf der
Strecke abgebaut, aber die Strecke selbst freigehalten ist. Dann muss man
wieder Schienen verlegen, was immerhin schneller geht, als ganz neue
Trassen zu bauen. Letzteres hat immer recht lange Verfahren für die Planung
und Beteiligung.
Wer zahlt Sanierungen oder die neue Infrastruktur?
Wie immer in Deutschland, egal ob Schiene oder Straße, der Staat. Ein Teil
das Land, ein Teil der Bund. Zu welchen Teilen ist sehr unterschiedlich und
abhängig von der Nutzung. Wenn eine Strecke einmal gebaut ist, zahlen die
Bahnunternehmen Gebühren, von denen die Strecken instand gehalten werden.
In Deutschland sind diese Gebühren sehr hoch. Sie machen schnell ein
Viertel bis ein Drittel der Betriebskosten des Bahnunternehmens aus. Das
macht Bahnverkehr auf vielen Strecken unattraktiv, weil es für Unternehmen
schwer ist, dort wirtschaftlich zu arbeiten beziehungsweise die
Bundesländer dann viel Geld zuschießen müssen. Andere Länder in Europa
sagen: „Wir wälzen die Kosten nicht komplett auf die Unternehmen ab, weil
das Hauptinteresse nicht ist, kostendeckend zu arbeiten, sondern möglichst
viel Verkehr auf die Schiene zu kriegen.“ Dann macht es Sinn, auf nicht
voll ausgelasteten Strecken – was bei solchen Reaktivierungen in den ersten
Jahren wahrscheinlich der Fall sein wird – einen Teil der Gebühren durch
den Bund zu übernehmen. Keinen Sinn macht es, dort Gebühren zu senken, wo
wir überlastete Strecken haben. Das sind aber nicht die im ländlichen Raum,
sondern die Haupttrassen zwischen Hamburg, Hannover, Frankfurt.
So eine Unterstützung würde sich dann auf die Ticketpreise auswirken?
Der Fahrgast profitiert auf jeden Fall davon – entweder mit niedrigeren
Preisen, oder von dem Geld werden zusätzliche Fahrten durchgeführt.
Brauchen wir niedrige Preise nicht zwingend, damit alle Menschen von einem
Ausbau profitieren?
Letztlich entscheiden Länder und Kommunen über Tarife in Regionalzügen. Die
müssen im Zweifel mehr zuschießen. Es braucht keinen pauschalen Nulltarif,
denn viele sind bereit, für gute Qualität zu zahlen. Aber die Gruppen mit
geringem Einkommen dürfen nicht abgehängt werden. Daher brauchen wir für
Schüler oder Menschen ohne Arbeit günstige oder kostenlose Fahrten.
Noch einmal zu den Kosten für den Ausbau der Strecken: Es gibt die
Möglichkeit, Geld über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz zu bekommen.
Wie läuft das?
Das ist der größte Infrastrukturfinanzierungstopf, über den der Bund solche
Strecken fördert. Darauf können sich die Länder mit Projekten bewerben,
häufig sind das Schienenprojekte. Wenn sie in den Topf reinkommen, haben
sie die Chance auf eine sehr hohe Beteiligung des Bundes von 70, 80
Prozent.
Das klingt super.
Das Problem ist: Der Topf ist chronisch unterfinanziert. Das Budget wächst
zwar gerade auf eine Milliarde Euro pro Jahr, aber wenn man schaut, was wir
die nächsten Jahre im Bereich Nahverkehr für Bedarfe haben und wie viele
Projekte sich heute schon bewerben, würden wir mit der jetzigen
Finanzierung Jahrzehnte brauchen, um die alle abzuarbeiten. Es braucht also
eine deutliche Aufstockung.
Um wie viel?
Man sollte von Jahr zu Jahr stetig steigern, sicherlich Richtung zwei bis
drei Milliarden pro Jahr. Es exakt zu benennen, ist schwierig, weil bislang
kein Bundesland ein vollständiges, in sich schlüssiges Konzept vorgelegt
hat, wie es die Verkehrswende in den kommenden Jahren machen will – sprich,
wie es in Zukunft mehr als doppelt so viel Fahrgäste wie heute befördern
will. Wir wissen also noch nicht, wie viel Infrastruktur wir genau
brauchen. Aber so einen Topf von jetzt auf gleich zu verdoppeln, wäre wenig
sinnvoll, weil dann die Bau- und Planungskapazität wiederum nicht
hinterherkommen.
Die niedersächsischen Grünen kritisieren das Bewerbungsverfahren unter
anderem, weil das Kriterium des Klimaschutzes noch nicht so hoch gewichtet
ist, wie es angekündigt ist. Woran hakt es bei dem Verfahren aktuell?
Um angenommen zu werden, muss jedes Projekt eine Kosten-Nutzen-Analyse
durchführen. Darin werden Baukosten und Nutzen bewertet und in Geld
umgerechnet. Zeitersparnis etwa wird aktuell sehr hoch gewichtet,
CO2-Emissionen aber gering. Das Verfahren muss also weiterentwickelt
werden, damit genau das, was unser größtes Problem ist im Verkehrsbereich –
dass wir die Klimaziele massiv verfehlen werden –, viel stärker gewichtet
wird. Es dürften nur noch Projekte gefördert werden, die zu einer
deutlichen CO2-Minderung führen. Das wären dann in aller Regel
Schienenprojekte.
Gibt es noch mehr Probleme mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz?
Wenn man einmal dieses Verfahren bestanden hat, wird es politisch, fast
willkürlich. Es ist nicht so, dass die Projekte mit dem größten Nutzen
automatisch zuerst gebaut werden. Das Geld wird mehr oder weniger
gleichmäßig auf die Länder verteilt. Das kennen wir schon vom
Bundesverkehrswegeplan, bei dem es um die ganz großen Bahnstrecken und
Autobahnen geht: Der Bundestag entscheidet, welche angenommenen Projekte
ganz oben auf die Liste kommen – letztlich versucht jeder Abgeordnete, die
Projekte in seinem Wahlkreis durchzubringen. Ein systematisches Vorgehen,
mit dem wirklich die für eine Verkehrswende notwendige Infrastruktur
geschaffen wird, gibt es noch nicht.
Die Regierung in Niedersachsen sagt, sie will warten, bis das
Bewerbungsverfahren überarbeitet ist. Die Grünen fordern jetzt schon die
Finanzierung von Machbarkeitsstudien und einen überparteilichen
Lenkungskreis. Wie würden Sie es machen?
Ich kenne die Strecken in Niedersachsen nicht. Aber: Das Verfahren wird
stetig weiterentwickelt. Alle, die sich damit beschäftigen, sind sich
einig, dass der Klimaaspekt eine deutlich höhere Gewichtung bekommen wird.
Das wird in den nächsten Jahren schrittweise passieren. Es lohnt also
nicht, auf den großen Wurf zu warten. Die Zeit drängt, die Planung von
Schieneninfrastruktur hat immer einen großen Vorlauf. Daher lieber jetzt
starten als warten.
Wie ökologisch ist die Bahn überhaupt?
Neben dem Bus ist die Bahn das deutlich umweltfreundlichste Verkehrsmittel.
Im Schnitt hat der Regionalverkehr im Vergleich zum Auto dreimal weniger
CO2-Ausstoß, der Fernverkehr sogar noch weniger, weil die Züge besser
ausgelastet sind. Wir werden zudem den gesamten Verkehr in den nächsten
Jahren elektrifizieren müssen, um ihn klimaneutral zu machen. Der Vorteil
der Bahn ist: Sie ist bereits zu 90 Prozent elektrisch. Deswegen wird der
niedrige CO2-Ausstoß in den nächsten Jahren schnell weiter sinken, wenn wir
mehr erneuerbare Energien am Stromnetz haben – ein unschlagbarer Vorteil.
Ist in diese Bilanz auch eingerechnet, dass es für den Ausbau neue Züge und
Schienen braucht?
Nein, das ist die Bilanz für den laufenden Betrieb. Das ist beim Auto aber
nicht anders. Diese Emissionen stecken in der Klimabilanz Deutschlands alle
im Sektor Bauen und Industrie drin. Aber wenn schon Infrastruktur schaffen,
dann die, die in den kommenden Jahrzehnten ökologisch nutzbar ist.
Wo kann der Bus in Zukunft eine Rolle spielen?
Busse haben im Schnitt eine ähnlich gute Ökobilanz wie die Bahn. Auf
Verbindungen mit viel Pendlerverkehr, wo es unrealistisch ist, dass da in
naher Zukunft eine Bahn kommt, sollte man prüfen, ob eine starke
Busverbindung Sinn macht. So stark, wie wir sie in Deutschland eigentlich
gar nicht kennen und wie sie deswegen oft in den Vorstellungen nicht
vorkommt: hochwertige Busse, die in einem engen Takt fahren – halbe Stunde,
15 Minuten – und im morgendlichen Berufsverkehr eigene Spuren bekommen und
am Stau vorbeifahren können.
14 Aug 2021
## LINKS
[1] /Spass-Baehnchen-macht-Ernst/!5050705
## AUTOREN
Alina Götz
## TAGS
Bahnverkehr
Verkehrswende
Niedersachsen
Schienenverkehr
Autoverkehr
Das Milliardenloch
ÖPNV
Hannover
Regionalverkehr
Verkehrswende
Auto
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
## ARTIKEL ZUM THEMA
Bund will Schienenverkehr-Geld kürzen: Aufschrei im Norden
Der Bund plant Kürzungen im regionalen Schienenverkehr. Kritik kommt aus
Schleswig-Holstein von der dortigen Landesregierung und der Opposition.
Nahverkehr-Chaos in Hannover: Schlechter als die Deutsche Bahn
Seit Juni wird der S-Bahn-Verkehr in Hannover vom Unternehmen Transdev
betrieben. Seither gibt es Klagen über ausgefallene oder verspätete Züge.
Protest gegen Straßenausbau in Hannover: „Das Gegenteil von Klimaschutz“
2.000 Protestierende werden am Freitag bei einer Aktion gegen den Ausbau
des Südschnellwegs in Hannover erwartet. Kommt der Protest zu spät?
Zugverbindungen auf dem Land: Alte Strecken, neue Liebe
In Niedersachsen könnten 36 stillgelegte Bahnstrecken reaktiviert werden,
sagen Grüne und Fahrgastverbände. Die Regierung lege die Hände in den
Schoß.
Mehr Züge auf dem Land: Jugend ohne Bahn
In Obernkirchen (Landkreis Schaumburg) fährt die Regionalbahn nur ab und zu
für Touristen. Manche vor Ort wollen das ändern. Ein Besuch.
Wie Klimaschutz im Verkehr funktioniert: Ein Leben ohne Auto
Auch auf dem Land kann man klimafreundlich mobil sein. Dafür muss man die
Eisenbahn ausbauen und klug mit anderen Fortbewegungsmitteln kombinieren.
Ausbau des Nahverkehrs im Norden: Verkehrswende ausgebremst
Mehr Bahnstrecken in Schleswig-Holstein sollen die Mobilitätswende
vorantreiben. Aber Geesthacht wartet trotzdem weiter auf einen
Schienenanschluss.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.