# taz.de -- Neues Grundgesetz in Chile: Gerechtigkeit mit Verfassungsrang? | |
> Diktator Augusto Pinochet verankerte den Neoliberalismus in Chiles | |
> Verfassung. Nach massiven Protesten geht es jetzt um ein neues | |
> Grundgesetz. | |
Bild: Die Mapuche Elisa Loncon beim Verfassungskonvent Anfang Juli | |
„Heute wird ein neues Chile gegründet“, sagt die Mapuche-Frau [1][Elisa | |
Loncon] in ihrer Antrittsrede. Gerade haben die Mitglieder der | |
verfassungsgebenden Versammlung sie zu ihrer Präsidentin gewählt. „Ein | |
plurales, mehrsprachiges Chile mit allen Kulturen, allen Völkern, den | |
Frauen und den Territorien – das ist unser Traum für eine neue Verfassung.“ | |
Viele sind von der Rede zu Tränen gerührt. Es ist Anfang Juli 2021 und das | |
erste Mal, dass eine indigene Frau in Chile in ein hohes politisches Amt | |
gewählt wird. Die Hoffnungen in sie und in die [2][verfassunggebende | |
Versammlung] sind groß. | |
Dass Chile eine neue Verfassung bekommen könnte, ist eine | |
[3][Errungenschaft des sozialen Aufstands], der 2019 und 2020 das schmale | |
Land an der Pazifikküste aufgerüttelt hat. Einer der Auslöser der Proteste | |
war die grassierende soziale Ungleichheit. | |
Das aktuell gültige Grundgesetz verabschiedete Diktator Augusto Pinochet | |
1980 ohne demokratische Mindeststandards. So erhielt das neoliberale | |
Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell Verfassungsrang, in dem die Rolle des | |
Staats auf ein Minimum beschränkt und die des Markts auf alle | |
Gesellschaftsbereiche ausgeweitet wurde. | |
## 80 Prozent der Chilen*innen sind verschuldet | |
„Das Modell hat die Oberschicht reich gemacht, aber die Lage für die | |
Mehrheit verschlechtert, weil die sozialen Grundrechte nicht garantiert | |
werden“, sagt Claudia Heiss, Politikwissenschaftlerin der Universidad de | |
Chile. „Das hat sich in 30 Jahren Demokratie nicht verändert, weil die | |
starren Institutionen der Diktatur weiterhin bestehen und den | |
Neoliberalismus bewahrt haben.“ | |
Der Mindestlohn in Chile liegt bei etwa 370 Euro im Monat. 80 Prozent der | |
Renten sind niedriger als der Mindestlohn. Gleichzeitig sind die | |
Lebenshaltungskosten hoch. Gesundheits- und Bildungswesen funktionieren | |
nach den Regeln des freien Markts. Was in anderen Ländern soziale Rechte | |
sind, die vom Staat garantiert werden, gilt in Chile als Ware, deren | |
Qualität davon abhängt, wie viel man bezahlen kann. | |
Die Behandlungen von lebensgefährlichen Krankheiten, wie zum Beispiel | |
Krebs, werden nicht von der öffentlichen Krankenversicherung übernommen, | |
weshalb es in Chile normal ist, ein Bingo zu veranstalten, um einen | |
medizinischen Eingriff zu finanzieren. Viele müssen sich verschulden, um | |
die hohen Lebenshaltungskosten zu bewältigen. 80 Prozent der | |
Chilen*innen sind verschuldet. | |
Präsident Sebastián Piñera hingegen besitzt dem [4][Forbes Magazine] | |
zufolge ein Vermögen von 2,8 Milliarden US-Dollar und gehört zu den | |
reichsten aktiven Politikern der Welt. Reich geworden ist er unter anderem | |
durch die Einführung von Kreditkarten in Chile. Sein Bruder José Piñera war | |
Arbeitsminister unter Pinochet und erschuf die [5][privaten Rentenfonds | |
AFP]. | |
## Klimawandel, Dürre, Wasserprivatisierung | |
Soziale Gerechtigkeit erhoffen sich viele durch die neue Verfassung. Die | |
meisten [6][linken und parteiunabhängigen Mitglieder] des | |
Verfassungskonvents, die sozialen Bewegungen angehören, wollen eine | |
staatliche Rentenversicherung und den Zugang zu einem öffentlichen und gut | |
ausgebauten Bildungs- und Gesundheitswesen verfassungsrechtlich verankern. | |
„Unser Programm steht in einer Linie mit den Bestrebungen der Revolte: Den | |
Neoliberalismus in Chile zu beenden und einen solidarischen, | |
plurinationalen Staat aufzubauen, der Rechte garantiert“, sagt Alondra | |
Carrillo, feministische Aktivistin und Mitglied des Verfassungskonvents. | |
Auch ökologische Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema der Debatte über | |
eine neue Verfassung. Chile ist stark vom Klimawandel betroffen und erlebt | |
gerade eine der schwersten Dürren seiner Geschichte. Verschärft wird die | |
Krise durch die Wasserprivatisierung, die dazu geführt hat, dass die auf | |
Export ausgerichteten Agrar- und Bergbauunternehmen im Besitz des Großteils | |
der Wassernutzungsrechte sind. | |
Vor wenigen Tagen gab eine staatliche Umweltbehörde dem umstrittenen | |
Bergbauprojekt Dominga grünes Licht. Es war in den Vorjahren mehrfach | |
abgelehnt worden, weil das Projekt ein Naturschutzgebiet in der Nähe von La | |
Serena im Norden des Landes gefährden würde, in dem Humboldt-Pinguine und | |
zahlreiche andere Tier- und Pflanzenarten leben. | |
„Extraktivistische Projekte wie dieses gehen in die entgegengesetzte | |
Richtung von unserem Projekt für eine ökologische Verfassung“, sagt | |
Cristina Dorador, Mikrobiologin, Umweltaktivistin und Mitglied des | |
Verfassungskonvents. „Wir brauchen ein neues Paradigma, ein neues | |
Entwicklungsmodell, das nicht die Ökosysteme zerstört.“ | |
Um soziale und ökologische Gerechtigkeit in Chile zu erreichen, sei die | |
Rolle der Indigenen besonders wichtig, bekräftigt Elisa Loncon. „Wir | |
erleben eine globale Krise aufgrund der Beziehung des Menschen zur Natur“, | |
sagt sie. „Wir indigenen Völker haben das Wissen, die Werte und die Praxis | |
für ein besseres Zusammenleben.“ Deshalb sei es unerlässlich, die | |
Plurinationalität des Staats verfassungsrechtlich zu verankern. | |
19 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Boddenberg | |
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