# taz.de -- Chile nach den Protesten: Adiós Neoliberalismo | |
> Am 4. Juli tagt in Chile erstmals die Versammlung, die eine neue | |
> Verfassung ausarbeiten wird. Sie will dem Erbe der Pinochet-Diktatur ein | |
> Ende setzen. | |
Bild: Bei der Abstimmung über die verfassunggebende Versammlung in Santiago am… | |
SANTIAGO DE CHILE taz | Von der Plaza de la Dignidad zum Verfassungskonvent | |
– so lautet das Motto des Protestmarschs an diesem Sonntag in Chiles | |
Hauptstadt Santiago. Dazu aufgerufen hat die „[1][Lista del Pueblo]“, eine | |
Gruppe von Parteiunabhängigen und Vertreter*innen sozialer Bewegungen, | |
die Teil des Verfassungskonvents sind. Der wird ebenfalls am Sonntag zum | |
ersten Mal zusammenkommen, um in den kommenden Monaten ein neues | |
Grundgesetz auszuarbeiten. | |
Die Plaza de la Dignidad, der Platz der Würde, ist das Zentrum der sozialen | |
Revolte, die sich seit mehr als einem Jahr gegen Ungleichheit, die | |
Verfassung aus der Pinochet-Diktatur und das darin verankerte neoliberale | |
Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell richtet. Augusto Pinochet regierte das | |
Land von 1973 bis 1990. | |
Im Oktober feierten Millionen von Menschen auf der Plaza de la Dignidad, | |
nachdem bei einem Referendum knapp 80 Prozent der Bevölkerung für die | |
Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt hatten. Und auch wenn die | |
Coronapandemie die Straßenproteste und landesweiten basisdemokratischen | |
Versammlungen oft verstummen ließ, der Wille nach Veränderung hat in Chiles | |
Bevölkerung bis heute nicht nachgelassen. | |
Das macht auch die Zusammensetzung des Gremiums deutlich, das die neue | |
Verfassung erarbeiten wird. Mehr als die Hälfte der 155 Mitglieder sind | |
Parteiunabhängige, die sozialen Bewegungen und Organisationen angehören: | |
[2][der feministischen Bewegung], regionalen Umweltbewegungen und | |
Nachbarschaftsversammlungen. | |
## Die Natur soll Rechte kriegen | |
„Wir sind eine Alternative zu den politischen Parteien, die jahrelang vom | |
Wirtschaftssystem profitiert haben, das aus der Zeit der Diktatur stammt“, | |
sagt Elsa Labraña. Sie ist Mitglied eines feministischen Kollektivs und | |
mehrerer Umweltschutzorganisationen. | |
Labraña kommt aus Curicó in der Maule-Region südlich von Santiago, in der | |
Monokulturen die Landschaft bestimmen. Hier gibt es die meisten Krebstoten | |
im ganzen Land. „Wir wollen eine Verfassung, die die Umwelt schützt. Die | |
Natur sollte zum Rechtssubjekt erklärt werden, damit die Ökosysteme | |
erhalten bleiben. Die Monokulturen müssen verschwinden. Sie gefährden | |
unsere Gesundheit“, sagt sie. | |
Die parteiunabhängige Lista del Pueblo („Liste des Volkes“), zu der Labra�… | |
gehört, erhielt bei den Wahlen im Mai 27 Sitze im Verfassungskonvent. Weil | |
sich landesweit parteiunabhängige Kandidat*innen zu dieser Liste | |
zusammenschlossen, hatten sie eine Chance gegen die traditionellen | |
Parteien, die vom Wahlsystem profitieren. Die rechten Regierungsparteien | |
erreichten das von ihnen erhoffte Drittel der Sitze nicht, mit dem sie | |
Veränderungen hätten blockieren können. | |
Die Parteien der ehemaligen Concertación – der Mitte-links-Koalition, die | |
Chile nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 bis 2010 regierte – erhielten | |
nur 25 Sitze. Viele machen sie für den Fortbestand des neoliberalen Modells | |
verantwortlich. | |
## Für ein würdevolles Leben | |
„Der Verfassungskonvent hat eindeutig eine linke Tendenz und es ist zu | |
erwarten, dass er eine anti-neoliberale Agenda haben wird“, sagt Claudia | |
Heiss, Politikwissenschaftlerin an der Universidad de Chile. „Es ist | |
außerdem zu erwarten, dass die öffentlichen Institutionen und die Rolle des | |
Staats gestärkt werden, hin zu einem Sozialstaat als Gegenposition zum | |
neoliberalen Staat, den die Verfassung von 1980 garantiert.“ | |
In Chile wurden die soziale Grundsicherung, die natürlichen Ressourcen und | |
das Wasser während der Pinochet-Diktatur zu großen Teilen privatisiert. Im | |
Verhältnis zu den hohen Lebenshaltungskosten sind die Löhne sehr niedrig. | |
Deshalb müssen sich viele verschulden, um Bildung, Gesundheitsversorgung, | |
Strom und Wasser zu bezahlen. „Una vida digna“, ein würdevolles Leben, war | |
eine der Hauptforderungen der Revolte. | |
„Hinter dem Begriff Würde stecken der Wunsch nach mehr sozialer Sicherheit | |
und nach politischer Teilhabe“, sagt Heiss. „Die wichtigsten Themen im | |
Verfassungskonvent werden deshalb die sozialen Rechte sein sowie die | |
Demokratisierung und Dezentralisierung der politischen Entscheidungen.“ Die | |
Mitglieder des Verfassungskonvents, die von sozialen Bewegungen und | |
Organisationen unterstützt werden, fordern Garantien für die demokratische | |
Beteiligung der Bevölkerung während des verfassungsgebenden Prozesses. | |
Die Regierung des rechten Präsidenten Sebastián Piñera, die für die | |
Rahmenbedingungen des Verfassungskonvents zuständig ist, hat bisher wenig | |
dazu beigetragen. Das öffentliche Budget, das für die Bürgerbeteiligung | |
vorgesehen ist, ist genau so groß wie das Budget, das für die private | |
Sicherheitsfirma bestimmt ist, die den Konvent begleiten soll. Und der | |
Vertrag, den die Regierung mit einem Streaming-Unternehmen abgeschlossen | |
hat, das die Sitzungen des Verfassungskonvents übertragen soll, enthält | |
eine Klausel, die besagt: Nur Inhalte, die von der Regierung zuvor | |
autorisiert wurden, dürfen übertragen werden. | |
„Wir wollen, dass das ganze Land am verfassungsgebenden Prozess teilnimmt, | |
nicht nur die 155 Mitglieder des Konvents. Der Regierung ist das aber | |
egal“, sagt Elsa Labraña. „Es sind keine Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung | |
vorgesehen. Wir organisieren deshalb selbst basisdemokratische Treffen.“ | |
Politikwissenschaftlerin Heiss zufolge ist die Art der Regierung, | |
politische Entscheidungen unter Ausschluss der Bevölkerung zu treffen, ein | |
Erbe der Diktatur. „Das politische System in Chile ist extrem elitär und | |
diskriminierend“, sagt sie. „Die Zusammensetzung des Verfassungskonvents | |
ist etwas komplett Neues: Er repräsentiert viel stärker die Gesellschaft | |
als jedes andere politische Organ. Es gibt Frauen, Indigene, Menschen mit | |
verschiedenen Bildungshintergründen, aus unterschiedlichen sozialen | |
Schichten und Regionen.“ | |
## „Sprache ist Macht“ | |
Der Verfassungskonvent ist der erste der Welt, der zu gleichen Teilen aus | |
Frauen und Männern besteht. Siebzehn Sitze sind für die zehn indigenen | |
Völker Chiles reserviert. Aber die Regierung weigert sich bisher, den | |
Vertreter*innen indigener Völker Übersetzer bereitzustellen. | |
„Sprache ist Macht. Wenn unsere Sprachen zum Schweigen gebracht werden, | |
heißt das, dass der chilenische Staat seine Macht nicht teilen will“, sagt | |
Elisa Loncón, die von den Mapuche in den Verfassungskonvent gewählt wurde. | |
Die Mapuche sind das größte indigene Volk Chiles, etwa 10 Prozent der | |
Bevölkerung fühlen sich ihnen zugehörig. | |
In der aktuellen Verfassung wird die Existenz der indigenen Völker nicht | |
anerkannt. Ihnen wurde bisher die politische Teilhabe extrem erschwert. | |
„Keine chilenische Verfassung hat die Rechte der indigenen Völker | |
berücksichtigt. Weil unsere Rechte auf Land, Sprache und Selbstbestimmung | |
nicht anerkannt werden, wird das Volk der Mapuche politisch verfolgt“, sagt | |
Loncón. „Das neoliberale Modell hat unsere Territorien zerstört.“ | |
Soziale Bewegungen und einige linke Parteien unterstützen die indigenen | |
Völker in ihren Forderungen. Eine Gruppe von mehr als 40 Mitgliedern des | |
Verfassungskonvents hat eine Liste mit sechs Punkten veröffentlicht, die | |
sie als Voraussetzung für die Arbeit des Verfassungskonvents betrachten. | |
Dazu gehören die Freilassung der politischen Gefangenen der Revolte, | |
Gerechtigkeit und [3][Reparationen für die Opfer der | |
Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär] bei den Protesten, | |
die Entmilitarisierung indigener Territorien und die Souveränität des | |
Verfassungskonvents. | |
## Wasserwerfer warten auf ihren Einsatz | |
Mit Souveränität ist beispielsweise die Unabhängigkeit von | |
Freihandelsabkommen gemeint. Als Regierungs- und Oppositionsparteien am 15. | |
November 2019, während des Höhepunkts der Revolte, das sogenannte | |
Friedensabkommen für eine neue Verfassung schlossen, fügten sie einen | |
Artikel hinzu, der besagt, dass die neue Verfassung alle von Chile | |
unterschriebenen Freihandelsabkommen respektieren muss. Chile verhandelt | |
gerade unter anderem ein neues Abkommen mit der Europäischen Union. | |
„Diese Abkommen sind die Grundlage des neoliberalen Modells in Chile“, sagt | |
Elsa Labraña. „Wenn der Verfassungskonvent ihnen untergeordnet ist, wird es | |
sehr schwer, das Modell zu verändern.“ | |
Die Plaza de la Dignidad wird mittlerweile rund um die Uhr von der Polizei | |
bewacht. Wasserwerfer und Tränengasfahrzeuge warten auf ihren Einsatz. | |
Die Reiterstatue des Militärgenerals Baquedano in der Mitte des Platzes | |
wurde nach Anordnung der Regierung abmontiert, um sie vor Vandalismus zu | |
schützen. Eine Mauer aus Stahl beschützt den leeren Sockel. | |
3 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.lalistadelpueblo.cl/ | |
[2] /Feministisches-Manifest-aus-Chile/!5751295 | |
[3] /Verbrechen-gegen-die-Menschlichkeit/!5769228 | |
## AUTOREN | |
Sophia Boddenberg | |
## TAGS | |
Santiago de Chile | |
Chile | |
Südamerika | |
Indigene | |
Umweltschutz | |
Neoliberalismus | |
GNS | |
Schwerpunkt Armut | |
Schwerpunkt Armut | |
Chile | |
Chile | |
Chile | |
Chile | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neues Grundgesetz in Chile: Gerechtigkeit mit Verfassungsrang? | |
Diktator Augusto Pinochet verankerte den Neoliberalismus in Chiles | |
Verfassung. Nach massiven Protesten geht es jetzt um ein neues Grundgesetz. | |
Philosoph über Umverteilung: „Alle wollen Gerechtigkeit“ | |
Leistung ist kein gutes Kriterium für eine gerechte Verteilung. Stattdessen | |
braucht es mehr Umverteilung, meint der Philosoph Stefan Gosepath. | |
Neue Verfassung für Chile: Die Frau mit der Flagge | |
Die Mapuche Elisa Loncon leitet den chilenischen Verfassungskonvent. Sie | |
wurde mit 96 von 155 Stimmen zu dessen Präsidentin gewählt. | |
Pinochets deutscher Folterknecht: Walther Klug muss in Chile in Haft | |
Der deutsch-chilenische Ex-Offizier ist in Chile ein verurteilter Mörder. | |
Seiner Strafe wollte er in Deutschland entkommen, doch wurde davor gefasst. | |
Wahl zum Verfassungskonvent: Niederlage für Rechte in Chile | |
Bei der Wahl zum Verfassungskonvent haben viele unabhängige Kandidaten | |
Plätze gewonnen. Die regierende Rechtskoalition hat wenig Einfluss. | |
Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Strafanzeige gegen Piñera | |
Chiles Menschenrechtskommission stellt Strafanzeige in Den Haag gegen | |
Präsidet Piñera. Der Vorwurf ist massive Polizeigewalt. |