# taz.de -- Erfolg der Massenproteste in Chile: Weg frei für eine neue Verfass… | |
> Unter dem Druck der anhaltenden Proteste gibt Chiles Kongress nach: Ein | |
> Referendum im April soll über einen Verfassungskonvent entscheiden. | |
Bild: Haben viel zu tun: SanitäterInnen auf einer Demonstration in Santiago am… | |
BUENOS AIRES taz | Nach 29 Tagen des [1][Protests] ist in Chile der Weg | |
frei für eine neue Verfassung. Im kommenden April soll die Bevölkerung in | |
einem Referendum über deren Ausarbeitung abstimmen. Bei einer Zustimmung | |
wird zugleich darüber abgestimmt, ob diese von einem Konvent, der jeweils | |
zur Hälfte aus Kongressmitgliedern und anderen Delegierten besteht, oder | |
von einem komplett neuen Verfassungskonvent ausgearbeitet werden soll. Die | |
Wahl des Konvents soll dann im Oktober 2020 stattfinden. Auf diesen | |
Kompromiss einigten sich die im Kongress vertretenen Parteien in der Nacht | |
auf Freitag. | |
„Es ist ein historischer Tag, an dem wir eine 100-prozentig demokratische | |
Verfassung anbieten“, sagte Senatspräsident Jaime Quintana am Sitz des | |
Kongresses in Santiago de Chile. Die [2][Verhandlungen] gestalteten sich | |
schwierig, da jede Einigung vom Kongress mit einer Zweidrittelmehrheit | |
angenommen werden muss. | |
In der nun erzielten Einigung wurde das Wort Asamblea Constituyente | |
(Verfassunggebende Versammlung) durch Convención Constitucional | |
(Verfassungskonvent) ersetzt. Die Kommunistische Partei hatte nicht an den | |
Verhandlungen teilgenommen. | |
Noch immer gilt in Chile die Verfassung der Pinochet-Diktatur (1973–1990) | |
aus dem Jahr 1980, die de facto den Neoliberalismus als alleinige | |
Wirtschaftsdoktrin festschreibt. Deshalb ist auch knapp 30 Jahre nach dem | |
Ende der Diktatur noch immer nahezu alles in privater Hand, darunter | |
Bildung, Gesundheit, Renten, selbst die Wasserversorgung. | |
## 250.000 Menschen auf der Straße | |
Ob nach dem jetzt ausgehandelten Kompromiss zwischen den vier Parteien der | |
Regierungsallianz Chile Vamos und den oppositionellen christdemokratischen, | |
liberal- und sozialdemokratischen, sozialistischen Parteien sowie der | |
linken Frente Amplio die Proteste abflauen, ist offen. | |
Präsident Sebastián Piñera hatte am Dienstagabend ein Abkommen über eine | |
neue Verfassung unter der Beteiligung der Bürger*innen sowie ein Referendum | |
über deren Annahme angekündigt. Zuvor hatte er lediglich zugestanden, der | |
Kongress solle eine neue Verfassung ausarbeiten und verabschieden. Der | |
Präsident beugte sich damit dem Druck durch die seit einem Monat | |
anhaltenden Proteste. | |
Diese hatten letzten Dienstag mit einen 24-stündigen Generalstreik und | |
250.000 Menschen auf den Straßen des Landes einen neuen Höhepunkt erreicht. | |
Am Abend war es zu schweren Ausschreitungen zwischen der Protestierenden | |
und Carabineros gekommen. 114 Geschäfte wurden geplündert, 30 Gebäude in | |
Brand gesetzt und 20 Polizeireviere angegriffen, wie das Innenministerium | |
am Tag danach mitteilte. 1.020 Menschen wurden festgenommen. | |
Auch am Donnerstag war es landesweit zu massiven Protesten gekommen. Die | |
Protestierenden erinnerten an den vor einem Jahr von Carabineros | |
erschossenen Camilo Catrillanca. Dem 24-Jährigen vom Volk der Mapuche war | |
auf dem Weg zur Feldarbeit bei Ercilla in der Region de La Araucanía von | |
einer patrouillierenden Spezialeinheit der Carabineros in den Hinterkopf | |
geschossen worden. Von den Carabineros gemachte Videoaufnahmen des Vorgangs | |
waren anschließend verschwunden. Ein Augenzeuge bestätigte jedoch den Mord. | |
Am kommenden 26. November beginnt der Prozess gegen sieben angeklagte | |
ehemalige Carabineros sowie einen Rechtsanwalt. | |
## Chiles Wirtschaft bricht ein | |
Druck kam auch aus der Wirtschaft. „In wirtschaftlicher Hinsicht braut sich | |
in Chile ein perfekter Sturm zusammen“, sagte Juan Pablo Swett, der | |
Vorsitzende des Lateinamerikanischen Unternehmerverbands, der BBC. | |
Wirtschaft, Konsum sowie Investitionen stünden gegenwärtig still. „Bislang | |
sind 70.000 Arbeitsplätze verloren gegangen“, so Swett. Sollte sich die | |
Situation in den kommenden Tagen nicht normalisieren, drohe der Verlust von | |
weiteren 500.000 Arbeitsplätzen. | |
Laut einer Studie des Wirtschaftsministeriums sind rund 6.800 Geschäfte, | |
Läden und kleine Unternehmen von Raub, Plünderung oder Brand betroffen. Der | |
Wert des chilenischen Pesos fiel auf ein Rekordtief. | |
Die Unruhen hatten am 18. Oktober begonnen. Bisher sind mindestens 20 | |
Menschen ums Leben gekommen. Menschenrechtsorganisationen haben mehrfach | |
Menschenrechtsverletzungen durch die Ordnungsorgane angeprangert. Amnesty | |
International hat nach eigenen Angaben in nur einer Woche mehr als 10.000 | |
Anzeigen sowie zahlreiches Videomaterial über [3][Gewaltanwendung] von | |
Carabineros und Militärs erhalten. | |
„Es ist offensichtlich, dass Präsident Sebastián Piñera nicht alle ihm zur | |
Verfügung stehenden Maßnahmen ergriffen hat, um die schweren | |
Menschenrechtsverletzungen und möglichen Völkerrechtsverbrechen zu | |
stoppen“, [4][sagte Erika Guevara Rosas], Amnesty-Direktorin für die Region | |
Amerika. | |
Nach der letzten Bilanz des autonomen, staatlichen Nationalen Instituts für | |
Menschenrechte [5][INDH] vom 10. November wurden 5.629 Menschen | |
vorübergehend festgenommen, darunter 634 Minderjährige. Unklar ist, wie | |
viele weiter in Haft sitzen. | |
2.009 Menschen wurden verletzt, davon 1.071 vor allem durch Gummigeschosse, | |
die bei 197 Personen zu schweren Augenverletzungen oder Verlust des | |
Augenlichts führten. Bisher liegen 267 Anzeigen vor, darunter 5 wegen | |
Mordes, 6 wegen versuchten Mordes und 192 wegen Folter, 48 wegen sexueller | |
Gewalt und 4 wegen Vergewaltigung. | |
15 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-in-Chile/!5634997 | |
[2] /Protest-in-Chile/!5639054 | |
[3] /Aktivistin-ueber-Chile-Soli-Demo/!5637054 | |
[4] https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/chile-amnesty-wirft-regie… | |
[5] https://www.indh.cl/ | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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