# taz.de -- Gewalt gegen Proteste in Chile: Polizei wird gummifrei | |
> Nach hunderten Augenverletzungen: Chiles Carabineros dürfen nur noch in | |
> Ausnahmefällen Gummigeschosse gegen Protestierende einsetzen. | |
Bild: Protest in Santiago gegen den Einsatz von Gummigeschossen | |
BUENOS AIRES taz | Chiles Polizei hat den Einsatz von Gummigeschossen | |
gestoppt. „Als Vorsichtsmaßnahme wurde angeordnet, die Verwendung dieser | |
nichttödlichen Munition als Anti-Aufruhr-Mittel auszusetzen“, verkündete | |
Mario Rozas, oberster Chef der Carabineros, am Dienstag. Lediglich in einer | |
Extremsituation zur Selbstverteidigung sei der Einsatz noch erlaubt, so der | |
Leiter der militärähnlichen Polizei. | |
Bei den seit über einem Monat anhaltenden Unruhen wurden bisher [1][über | |
200 Menschen] Opfer von Augen- und Gesichtsverletzungen durch | |
Gummigeschosse. Viele von ihnen haben ein Augenlicht für immer verloren. | |
Rozas reagierte mit dem Verbot aber nicht auf die hohe Opferzahl, sondern | |
auf die Ergebnisse einer [2][Materialuntersuchung] der Fakultät für Physik | |
und Mathematik der Universität von Chile. Diese hatte festgestellt, dass | |
eingesetzte Gummigeschosse lediglich zu 20 Prozent aus Kautschuk bestanden, | |
aber zu 80 Prozent aus Verbindungen aus Kieselsäure, Bariumsulfat und Blei. | |
Die Polizeibehörde hatte stets beteuert, es handle sich um reine | |
Kautschukgeschosse. Die Materialprüfung war von der Augenabteilung des | |
Hospitals del Salvador in Auftrag gegeben worden. In dem Hospital in | |
Santiago wird die Mehrzahl der Augenverletzungen behandelt. | |
## Alarmierender Brief aus der Ärztekammer | |
Menschenrechts- und soziale Organisationen prangern seit Beginn der | |
Proteste Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Ordnungskräfte an. | |
Protestierende berichteten mehrfach, dass die Carabineros gezielt in die | |
Gesichter von Demonstrant*innen schießen. Zahlreiche [3][Videoaufnahmen] | |
belegen das brutale Vorgehen sowie Misshandlungen durch die Carabineros. | |
Die Carabineros sind eine militaristische Polizei, die 1927 aus der Armee | |
hervorging. Sie ist straff organisiert und verfügt über eine militärische | |
Bewaffnung. | |
Bereits am 5. November veröffentlichte die konservative Tageszeitung El | |
Mercurio einen [4][alarmierenden Brief] des Präsidenten der chilenischen | |
Ärztekammer, Izkia Siches, und des Präsidenten der Ophthalmologischen | |
Gesellschaft, Dennis Cortés. Sie berichten, dass zwischen dem 19. Oktober | |
und dem 2. November 133 Patienten mit schwerem Augentrauma allein in der | |
ophthalmologischen Abteilung des Salvador-Krankenhauses behandelt wurden. | |
„Die Zahl erhöht sich weiter, nimmt man die über 40 weiteren Fälle hinzu, | |
die im selben Zeitraum in verschiedenen Behandlungszentren in Santiago und | |
in den verschiedenen Regionen registriert wurden“, schrieben die Mediziner. | |
51 Prozent davon sind durch Projektile aus Schusswaffen verursacht. „Die | |
Verletzungen sind vielfaltig, aber auffallend ist, dass über 60 Prozent der | |
Patienten wegen Augenverletzungen behandelt wurden und diese eine Blindheit | |
in dem betroffenen Auge aufwiesen, die mehrheitlich durch den Einschlag von | |
Projektilen und Gummigeschossen herbeigeführt wurden.“ | |
## Mindestens 23 Tote, über 2.300 Verletzte | |
Diese hohe Zahl Fällen sei auch deshalb alarmierend, weil sie über denen | |
liege, die aus Ländern bekannt sind, in denen es ähnliche | |
Protestsituationen gibt. „Die Zahl der Patienten, die ihren Augapfel durch | |
den Einsatz nichttödlicher Waffen verloren haben, ist sehr alarmierend und | |
wir liegen damit international leider an der Spitze“, so Siches. | |
Präsident Sebastián Piñera hatte den Gewaltmissbrauch von Carabineros und | |
Militärs erst letzten Sonntag eingeräumt. „In einigen Fällen wurden die | |
Protokolle nicht eingehalten, gab es den exzessiven Einsatz von Gewalt, kam | |
es zu Missbrauch oder Straftaten, und die Rechte aller wurden nicht | |
respektiert“, sagte Piñera am Sonntagabend in einer [5][Fernsehansprache]. | |
Piñera verurteilte die Gewalt, egal von wem sie ausginge. „Es wird keine | |
Straflosigkeit geben, weder für die, die außergewöhnliche Gewalttaten, noch | |
für jene, die Misshandlungen und Übergriffe begangen haben“, kündigte er | |
an, sprach aber zugleich den Carabineros seinen Dank für ihren Einsatz aus. | |
Bei den am 18. Oktober begonnenen Unruhen sind bisher mindestens 23 | |
Menschen ums Leben gekommen. Nach der jüngsten Bilanz des autonomen, | |
staatlichen Nationalen Instituts für Menschenrechte INDH vom 15. November | |
wurden 6.362 Menschen vorübergehend festgenommen, darunter 759 | |
Minderjährige. Unklar ist, wie viele weiter in Haft sitzen. | |
2.381 Menschen wurden verletzt, davon 1.360 vor allem durch Gummigeschosse, | |
die bei 217 Personen zu schweren Augenverletzungen oder Verlust des | |
Augenlichts führten. Bisher wurden in 329 Fällen Anzeigen erstattet, | |
darunter vier wegen Mordes, sieben wegen versuchten Mordes und 246 wegen | |
Folter, 58 wegen sexueller Gewalt und vier wegen Vergewaltigung. | |
20 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-in-Chile/!5642451 | |
[2] https://www.eldesconcierto.cl/wp-content/uploads/2019/11/INFORME-UTOSInfFin… | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=pScKjziA3CY | |
[4] https://www.theclinic.cl/2019/11/05/sociedad-de-oftalmologia-asegura-que-en… | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=IAiV5shshbI | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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