# taz.de -- Chiles Rentner im Wettbewerb | |
> Das einzige, was das System der Alterssicherung in dem neoliberatlen | |
> Wunderland garantieren kann, sind große Versprechungen und regelmäßige | |
> Werbegeschenke ■ Von Joachim F. Tornau | |
Berlin (taz) – Toaster, Telefon, Fernseher, Fahrrad: Der Haushalt eines | |
durchschnittlichen Chilenen ist wohlsortiert. Und er hat keinen Peso | |
dazubezahlt. Denn was die Heimstatt von, sagen wir, Roberto Rodriguez | |
füllt, sind Geschenke – Werbegeschenke, mit denen die dreizehn | |
Pensionsfonds des privatisierten chilenischen Rentensystems um die Gunst | |
der Versicherten buhlen. Das regelmäßige Wechseln des „Administrador de | |
Fondos de Pensiones“, kurz: AFP, ist so zu einer Art Volkssport geworden. | |
Rund ein Drittel der Versicherten tut dies einmal im Jahr. | |
Wettbewerb soll in Chile für so sichere wie hohe Renten sorgen. In keinem | |
Land der Welt wurde die Alterssicherung derart vollständig privatisiert. | |
Seitdem gilt der Andenstaat als das Musterland eines sogenannten | |
kapitalgedeckten Rentensystems, bei dem nur das ausgezahlt wird, was die | |
Versicherten auf ihr persönliches Pensionskonto eingezahlt haben. | |
Das System überläßt die Altersvorsorge fast völlig den einzelnen | |
ArbeitnehmerInnen. Zehn Prozent ihres Einkommens müssen sie an einen | |
Pensionsfonds ihrer Wahl abführen, zuzüglich einer Gebühr von etwa drei | |
Prozent des Einkommens, die die Verwaltungskosten decken und eine | |
Erwerbsunfähigkeits- und Lebensversicherung finanzieren soll. Durch | |
Spekulationen der AFP auf dem Kapitalmarkt soll sich das eingezahlte Geld | |
vermehren. Ist das Pensionsalter erreicht oder genügend Geld angespart, | |
wird das Ersparte ausgezahlt oder in Ratenzahlungen einer | |
Lebensversicherung umgewandelt. | |
Der Staat ist an diesem System nur am Rande beteiligt. Er sorgt für eine | |
sehr bescheidene Mindestrente in Höhe von umgerechnet 210 Mark – weniger | |
als ein Drittel des Durchschnittslohns – und garantiert bis zum endgültigen | |
Auslaufen des alten Rentensystems die alten Ansprüche. Mit einer eigenen | |
Behörde überwacht er die Tätigkeit der Fonds. Bleibt die Rendite eines AFP | |
längere Zeit deutlich unter dem Durchschnitt der anderen, droht ihm die | |
Schließung. Für den Fall einer solchen Pleite zahlen alle AFP in einen | |
Sicherheitsfonds, um die Übernahme der Versicherten samt der | |
Rentenansprüche in einen anderen AFP zu sichern. | |
Der Vater dieses Systems heißt José Piñera, Ökonom, Harvard- Absolvent und | |
einer der berühmten „Chicago Boys“, die von Militärdiktator Augusto | |
Pinochet seinerzeit berufen wurden, um das lateinamerikanische Land nach | |
neo- liberalen Maßstäben umzubauen. Piñera war Minister für Arbeit und | |
Soziales unter Pinochet und ist heute unter anderem Chef des von ihm | |
gegründeten „International Center for Pension Reform“, einer Einrichtung, | |
die sich der Verbreitung des chilenischen Modells in alle Welt verschrieben | |
hat. Er sieht sich selbst als Befreier der ArbeiterInnen. Dank der | |
Einführung seines Systems in Chile am 1. Mai 1981 könnten sie den 1. Mai | |
nicht nur als Tag des Klassenkampfes feiern, sondern auch als den Tag, an | |
dem ihnen ermöglicht worden sei, „sich von den Ketten der vom Staat | |
betriebenen Sozialversicherung zu befreien“. | |
Unserem Durchschnittschilenen Roberto Rodriguez verspricht er satte | |
Gewinne. Bei einer durchschnittlichen jährlichen Rendite von vier Prozent | |
sei ihm eine Rente in Höhe von 70 Prozent des letzten Gehalts sicher – | |
mindestens: Die Bilanz der ersten siebzehn Jahre weist eine beeindruckende | |
Rendite von jährlich fast zwölf Prozent aus. Betrachtet man nur die letzten | |
Jahre, wandelt sich das Bild jedoch. Seit 1995 machen die Fonds Verluste, | |
in den vergangenen zwölf Monaten sank die Rendite auf minus 6,3 Prozent. | |
Daß die Gesamtbilanz trotzdem positiv ist, liegt nur an den Gewinnen der | |
Anfangsjahre: Um die Kosten für den Übergang zum neuen Rentensystem zu | |
finanzieren, brauchte der chilenische Staat Geld – und das hat er sich von | |
den AFP geliehen, zu weit überdurchschnittlichen Zinssätzen. | |
KritikerInnen verweisen außerdem auf die teure Verwaltung: Nach einer | |
Studie von Weltbank- ökonom Hemant Shah bleiben von den zwölf Prozent | |
Gesamt-rendite nach Abzug aller Gebühren und Kommissionen gerade noch gute | |
sieben übrig. Wer keiner regelmäßigen und gutbezahlten Arbeit nachgeht, hat | |
das Nachsehen: Arbeitslose, die Mitglieder des großen informellen Sektors | |
und nicht zuletzt viele Frauen. Eine solidarische Umverteilung findet nicht | |
statt und soll auch nicht stattfinden: JedeR ist nur für sich selbst | |
verantwortlich. | |
Es wird gerne betont, welch positiven Einfluß die Investitionen der Fonds | |
auf die chilenische Wirtschaft haben. Im Moment jedoch scheint sich dieser | |
Effekt eher umzukehren. Die Verluste, die die AFP im Gefolge der | |
Finanzkrise in Asien und Rußland verbuchen, versuchen sie durch | |
Dollarspekulationen auszugleichen. Das ließ den chilenischen Peso massiv | |
unter Druck geraten – trotz Stützungskäufen der Zentralbank sank sein Wert | |
innerhalb eines Jahres um fast 15 Prozent. | |
Wieviel Rente unser Roberto Rodríguez eines Tages erhalten wird, kann heute | |
niemand mit Bestimmtheit sagen. Nur eines ist sicher: Toaster, Telefon, | |
Fernseher und Fahrrad darf er behalten. | |
28 Sep 1998 | |
## AUTOREN | |
Joachim F. Tornau | |
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