# taz.de -- Ein Jahr Sicherheitsgesetz: Hongkongs radikaler Umbau | |
> Seine Autonomie hat Hongkong mit Pekings Sicherheitsgesetz verloren. Die | |
> Finanzmetropole hat sich seitdem grundlegend verändert. | |
Bild: Das Sicherheitsgesetz war eine Reaktion auf die Demokratiebewegung | |
Peking taz | Chinas Machtergreifung in Hongkong vor einem Jahr wirkte wie | |
eine überhastete Reaktion auf die [1][ausufernden Proteste in der Stadt] | |
seit 2019. Doch tatsächlich war der Schritt von langer Hand geplant: | |
Bereits 2014 publizierte Pekings Staatsführung fernab der | |
Medienöffentlichkeit einen Bericht, in dem sie die rechtliche Umgestaltung | |
der bis 1997 britischen Kronkolonie forderte. | |
Am 1. Juli 2020 ist dies mit der [2][Einführung von Chinas nationalem | |
Sicherheitsgesetz] für Hongkong geschehen. Das vage formulierte Dokument | |
stellt unter anderem „Sezession“ und „Verschwörung mit ausländischen | |
Kräften“ unter Strafe. Es ermöglicht die Auslieferung von Verdächtigen aus | |
Hongkong an Gerichte auf dem Festland und kann weltweit geltend gemacht | |
werden. Das Gesetz hat Hongkong in ein vorher und nachher geteilt. | |
„Peking versucht, Hongkongs pro-demokratische Bewegung zu enthaupten“, | |
kritisiert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Es sei | |
offensichtlich, dass China mit dem nationalen Sicherheitsgesetz „die | |
Institutionen und die Gesellschaft Hongkongs umgestalten“ möchte. Die | |
weitgehend freie Stadt soll zu einem weiteren Shanghai oder Shenzhen | |
werden: wirtschaftlich frei, doch politisch unter vollständiger Kontrolle | |
der Kommunistischen Partei Chinas. | |
Hongkongs prodemokratische Opposition im Legislativrat ist längst aus | |
Protest [3][geschlossen zurückgetreten]. Politische Kontrollarbeit ist | |
unter den neuen Bedingungen nicht mehr möglich. Bei den mehrfach | |
verschobenen Wahlen kann nur noch kandidieren, wer einen „Patrioten-Schwur“ | |
geleistet hat. Peking nennt dies die [4][„Perfektionierung“ des Hongkonger | |
Wahlsystems]. | |
## Wie sich Staatskontrolle schleichend im Alltag festsetzt | |
Selbst pro-demokratische Veteranen haben längst resigniert. Chan Tat Ching, | |
der noch vor dreißig Jahren Mitglieder der Pekinger Studentenbewegung nach | |
Hongkong schmuggelte, ruft heute die nächste Generation in ihrem Kampf zur | |
Mäßigung auf – aus Selbstschutz: „Einige junge Leute verstehen es nicht. | |
Sie halten die Kommunistische Partei für einen Papiertiger. Aber die Partei | |
ist ein echter Tiger“, sagte der 77-Jährige jüngst der New York Times. | |
Ein Blick auf die Zahlen ist ernüchternd: Bislang wurden mehr als 100 | |
Hongkonger auf Grundlage der nationalen Sicherheitsgesetzes und im selben | |
Zeitraum über 10.000 weitere Personen verhaftet, weil sie 2019 an den | |
Anti-Peking-Protesten teilgenommen hatten. | |
Doch während Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam vor einem Jahr | |
versprach, das neue Gesetz würde nur einen kleinen Prozentsatz der | |
Bevölkerung betreffen, hat sich durch dessen Anwendung das | |
gesellschaftliche Klima seitdem vollständig gewandelt. | |
Hongkong ist ein Lehrstück dafür, wie sich autoritäre Staatskontrolle | |
schleichend im Alltag der Bewohner festsetzt. Die Polizeibehörden haben | |
sogenannte „Spitzel“-Hotlines eingerichtet, wo rebellische Lehrer oder | |
nicht-loyale Nachbarn verpfiffen werden können. Im ersten halben Jahr | |
gingen 100.000 Anrufe ein. Dazu wurden Bibliotheken [5][von | |
Peking-kritischen Publikationen gesäubert], Online-Archive gelöscht und | |
Lehrbücher in den Schulen ausgetauscht. | |
## Paranoia und Selbstzensur grassieren in Hongkong | |
Wer als Hongkonger noch mit Journalisten redet, befindet sich entweder im | |
Ausland oder besteht auf verschlüsselter Kommunikation und Anonymität. | |
[6][Paranoia und Selbstzensur], wie sie die Bevölkerung in Festlandchina | |
längst verinnerlicht hat, haben nun auch in Hongkong Einzug gehalten. Als | |
Korrespondent hat sich die Arbeit grundlegend gewandelt: Denn eine | |
scheinbar harmlose Frage etwa nach Hongkongs Zukunft ist jetzt eine | |
Einladung zur Straftat. | |
Doch das sind Luxusprobleme im Vergleich zu denen einheimischer Kollegen. | |
Die letzte große Oppositionszeitung Apple Daily musste nach zwei | |
großangelegten Razzien und dem Einfrieren von Konten letzte Woche ihre | |
Pforte schließen. [7][Herausgeber Jimmy Lai] sitzt bereits in Haft, | |
Mitarbeiter aus dem Vorstand und leitende Redakteure warten auf ihren | |
Prozess. | |
Auch die einst renommierte South China Morning Post ist noch ein Schatten | |
ihrer selbst. Denn jeder Leitartikel kann künftig als Verstoß gegen das | |
nationale Sicherheitsgesetz ausgelegt werden. Die Forderung nach Sanktionen | |
gegen Peking gilt als „Verschwörung mit ausländischen Kräften“, der Ruf | |
nach mehr Autonomie für Hongkong potenziell als „Sezession“. | |
„Diese Argumentation macht es schwer vorstellbar, wie irgendein | |
Medienunternehmen in Hongkong künftig frei agieren kann“, schreibt die | |
ehemalige Peking-Korrespondentin und Buchautorin Louisa Lim auf ihrem | |
Twitter-Account. Nicht wenige kritische Journalistinnen und Journalisten | |
haben inzwischen die Sonderverwaltungszone verlassen oder den Beruf | |
gewechselt. | |
## Die Wirtschaft boomt | |
Wirtschaftlich hingegen profitiert Hongkong derzeit von der Transformation. | |
Die Niederschlagung der Proteste hat Stabilität in die Stadt gebracht, und | |
das meiste Geld an der Hongkonger Börse kommt ohnehin längst vom Festland. | |
Dort liegen mittlerweile auch die ökonomischen Möglichkeiten für viele | |
junge Hongkonger, die unter den extremen Immobilienpreisen und relativ | |
niedrigen Löhnen leiden. Die Nachbarstädte Shenzhen und Guangzhou locken | |
hingegen mit deutlich niedrigeren Mieten und guten Aufstiegsmöglichkeiten. | |
Doch wer sich nicht fügen will, dem bleibt wohl nur die Emigration. Laut | |
Daten des pensionierten Investmentbankers David Webb, der seit Jahrzehnten | |
in Hongkong lebt, haben seit Einführung des nationalen Sicherheitsgesetzes | |
über 100.000 Stadtbewohner ihre Heimat verlassen. | |
30 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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