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# taz.de -- Messerangriff von Würzburg: Die Unberechenbaren
> Islamistisches Attentat oder Wahntat? Der Fall Würzburg zeigt einen neuen
> Tätertyp, auf den sich Zivilgesellschaft und Behörden eingestellt haben.
Bild: Gedenken an die Opfer in der Innenstadt von Würzburg
Abdirahman J. A. sitzt weiter in Untersuchungshaft in der JVA – und
schweigt. Warum der 24-Jährige [1][am Freitag vor einer Woche] in der
Haushaltsabteilung von Woolworth in Würzburg plötzlich zu einem 33
Zentimeter langen Küchenmesser griff und damit drei Frauen erstach, warum
er vier weitere Frauen schwer verletzte und dann noch ein Mädchen und einen
Jungen – dazu sagt er nichts. Auch nicht, warum er dabei laut eines
Kaufhausdetektivs zweimal „Allahu akbar“ rief.
„Er hat sich bisher nicht eingelassen und er wird es vorerst auch nicht
tun“, sagt sein Anwalt Hans-Jochen Schrepfer. „Für mich gibt es derzeit
aber keine Anhaltspunkte für eine islamistische Tat.“ Er habe länger mit
Abdirahman J. A. am Tag nach der Tat gesprochen, er habe die Vorwürfe bei
der richterlichen Haftprüfung gehört. Außer dem „Allahu akbar“-Rufen gebe
es nichts Erwiesenes für ein politisches Motiv. „Und das allein reicht
nicht.“
Die Ermittler:innen sind sich da nicht so sicher. Rund 130 Beamte der
Soko „Main“ werten derzeit zwei Handys von Abdirahman J. A. aus, befragten
bereits Dutzende Zeug:innen. Vor allem aber setzen sie auf ein
psychiatrisches Gutachten, das nun von einem fränkischen Professor erstellt
wird. Es soll helfen, die Frage zu klären, was das nun für eine Tat war.
Ein islamistisches Attentat? Der Amoklauf eines Wahnhaften? Oder beides?
Es ist eine Frage, die sich nicht zum ersten Mal stellt.
Abdirahman J. A. kam 2015 aus dem Bürgerkriegsland Somalia nach
Deutschland, erhielt hier einen subsidiären Schutzstatuts und lebte
zunächst in Chemnitz. Von dort [2][gibt es ein Video] von 2018, in dem er
von einem rassistischen Übergriff auf einen Bekannten während rechter
Unruhen in der Stadt berichtet. Zuletzt lebte der 24-Jährige in einer
Würzburger Obdachlosenunterkunft. Mit politischen Taten fiel er den
Behörden nicht auf.
## Psychotischer Schub?
Aber er wurde anderweitig auffällig. Zu Jahresbeginn bedrohte Abdirahman J.
A. in seiner Unterkunft zwei Mal andere mit einem Messer. Für eine Woche
landete er in einer psychiatrischen Klinik. Die regte an, ihm einen
Betreuer an die Seite zu stellen – wofür das Amtsgericht zunächst keinen
Bedarf sah. Im Juni stieg der 24-Jährige dann in ein fremdes Auto ein und
weigerte sich, dieses wieder zu verlassen. Wieder landete er für eine Nacht
in der Klinik. Laut Medienberichten war er auch zuvor schon in
psychiatrischer Behandlung, soll mit Drogen- und Alkoholkonsum aufgefallen
sein. Geschah der Messerangriff aus einem psychotischen Schub heraus?
Andererseits soll der Somalier laut Ermittlern im Krankenhaus nach der Tat
von seinem „Dschihad“ gesprochen haben. Anwalt Schrepfer stellt das in
Frage: „Obwohl ich mehrere Stunden in der Klinik war, habe ich davon nichts
mitbekommen. Auch im Haftbefehl steht dazu nichts.“ Auch das anfangs
kolportierte IS-Material, das sich im Zimmer des 24-Jährigen befunden haben
soll, dementieren die Ermittler.
Der Fall Abdirahman J. A. bleibt also vorerst offen. Bisher hat die
Bundesanwaltschaft diesen auch nicht übernommen, was sie im Falle einer
politischen Tat dieser Dimension täte. Andererseits sitzt Abdirahman J. A.
auch nicht in der Psychiatrie, sondern weiterhin in der JVA – zumindest bis
zum Ergebnis des psychiatrischen Gutachtens. Dort könnte auch geklärt
werden, warum der Somalier vor allem Frauen attackierte. Dies könne auch
Zufall sein, erklären die Ermittler bisher.
Es gibt inzwischen eine Reihe ähnlicher Fälle, bei denen lange über das
Motiv gerätselt wurde. Im August 2020 etwa fuhr ein psychisch erkrankter
Iraker [3][auf der Berliner Stadtautobahn Motorradfahrer um] und rief
danach „Allahu akbar“. 2018 zündete ein Syrer im Kölner Hauptbahnhof einen
Molotow-Cocktail, nahm eine Frau als Geisel und bezeichnete sich als
IS-Anhänger – er wurde in die Psychiatrie eingewiesen.
2017 erstach in Hamburg ein Palästinenser in einem Supermarkt einen Mann,
verletzte sechs weitere Personen. Auch er rief dabei „Allahu akbar“, sprach
von einer inneren Stimme – hier aber sah ein Gutachter keine wahnhafte
Erkrankung. Auf der anderen Seite zeigte auch [4][der Hanau-Attentäter],
der neun Menschen mit Migrationsgeschichte erschoss, nicht nur einen
ausgeprägten Rassismus, sondern auch Verfolgungswahn.
Die Vermischung von psychischer Auffälligkeit und Extremismus sei
inzwischen ein „dominantes Muster“ von Gewalttaten wie in Würzburg, sagt
der Terrorismusexperte Peter Neumann. Beides schließe sich nicht aus, könne
sich ergänzen oder die Tatmotivation sogar noch verstärken. Entscheidend
zur Einordnung sei, ob der Täter bei der Ausführung zurechnungsfähig war.
Auch Sinan Selen, Vizechef des Bundesamts für Verfassungsschutz, nannte
erst kürzlich im Bundestag den Umgang mit psychisch Erkrankten eine
„besondere Herausforderung“ für seine Behörde. Und das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (Bamf), das mit seiner Beratungsstelle
„Radikalisierung“ ebenfalls mit dem Thema beschäftigt ist, erklärt, dass
heute „zumindest Einzeltäter im Kontext extremistischer Gewalttaten
deutlich häufiger psychische Störungen vorweisen“.
Und das nicht nur in Deutschland. In einem im Juni [5][veröffentlichten
Report] hält Europol fest, dass die europaweit zehn islamistischen Attacken
2020 mit zwölf Toten alle von Einzeltätern verübt wurden – von denen gleich
mehrere „eine Kombination aus extremistischer Ideologie und mentaler
Erkrankung“ aufwiesen. Die Verhinderung solcher Taten sei sehr schwierig:
Denn hier gebe es „kein klares Profil“. Einige psychisch auffällige Täter
würden „dschihadistisches Verhalten imitieren“ – begünstigt durch die w…
Verbreitung von islamistischer Propaganda und die mediale Berichterstattung
über solche Terrortaten.
## Die Öffentlichkeit will Einordnung
Öffentlichkeit und Politik aber drängen auf eine klare Einordnung solcher
Fälle – auch um daraus Konsequenzen ziehen zu können. Es ist ein schmaler
Grat: Einerseits sollen ideologische Motive nicht bagatellisiert werden,
andererseits Taten von psychisch Erkrankten auch nicht politisch
instrumentalisiert. „Es hilft nichts“, sagt Kerstin Sischka, eine Berliner
Psychotherapeutin. „Es braucht stets eine sorgfältige Prüfung im
Einzelfall.“
Sischka arbeitet seit Jahren in Projekten zur Gewaltprävention und
Deradikalisierung, aktuell bei [6][Violence Prevention Network]. Im
Würzburger Fall geht auch sie fest von einer psychischen Störung des Täters
aus – der sich bei seiner Tat aber „islamistisch inspirieren“ ließ. „W…
genau die Gewichtung dieser Wechselbeziehung ausfällt, muss nun der
Gutachter klären.“
Auch früher habe es psychisch instabile Extremisten gegeben – die aber in
ihren politischen Gruppen aufgefangen wurden. Durch die gesellschaftliche
Vereinzelung und Digitalisierung, aber auch durch polizeilichen Druck gebe
es solche Gruppen heute weniger, so Sischka. Labile Radikale fielen nun auf
sich zurück, würden unberechenbarer. Auch können psychisch Erkrankte, die
mit Problemen kämpfen, in der Ideologie einfache Antworten finden und sich
schneller zu Gewalt verleiten lassen.
Beim Bamf beteuert man, Radikalisierten mit psychischen Auffälligkeiten
schon lange „ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit“ zu schenken.
Psychotherapeut:innen spielten für die Deradikalisierung „eine
äußerst wichtige Rolle“ und würden schon heute eingebunden, entsprechende
Modellprojekte gefördert. Im Sommer 2020 habe man zudem eine Broschüre an
Praxen verschickt, die erklärt, wie man Radikalisierungen erkennt.
## Keine Stigmatisierung
Im Frühjahr starteten auch in Nordrhein-Westfalen zwei Pilotprojekte. So
testet das Landeskriminalamt in mehreren Polizeibehörden das Projekt
„Periskop“, das labile Personen aufspüren soll, die Anschläge begehen
könnten. Erhalten Polizei oder Behörden Hinweise auf psychische
Erkrankungen und Gewaltaffinität, werden zu den Menschen Prüffälle angelegt
– rund 20 sollen es aktuell sein. Zusammen mit Gesundheitsbehörden,
Schulen, Ausländerbehörden oder Kliniken berät die Polizei dann, wer der
richtige Adressat für die Betroffenen ist.
In vielen Fällen, so das NRW-Innenministerium, offenbaren Täter im Vorfeld
ihre Gewaltabsichten, im Alltag oder im Netz. Für die Prüffälle brauche es
Hinweise auf eine „mehr als abstrakte Gefahr“ von Gewalttaten. Eine
psychische Erkrankung allein reiche nicht, sondern ein Zusammenspiel
mehrerer „Risikofaktoren“. Ein Generalverdacht gegen psychisch Erkrankte
dürfe nicht entstehen, betont eine Sprecherin. „Ziel des Konzepts ist es,
sorgsam mit Personen mit Risikopotenzial umzugehen und gleichzeitig
Gefahren ernst zu nehmen.“
Kerstin Sischka sieht das „Periskop“-Projekt skeptisch: „Es besteht die
Gefahr, dass psychisch Erkrankte stigmatisiert werden und das
Gesundheitswesen zum Helfer der Sicherheitsbehörden gemacht wird.“ Sie lobt
aber das im Februar gestartete zweite Projekt in NRW. In allen 30 zentralen
Geflüchtetenunterkünften werden Mitarbeiter:innen und
Bewohner:innen vom Beratungsnetzwerk „Grenzgänger“ über islamistische
Gefahren geschult.
Werden Radikalisierungen bemerkt, können anonym Hinweise gegeben werden.
Für Sischka ist das Projekt wichtig, weil bisher Geflüchtete
psychotherapeutisch „viel zu schlecht erreicht werden“. Und weil
zivilgesellschaftliche Träger wie „Grenzgänger“ ein anderes Vertrauen zu
den Betroffenen aufbauen könnten als die Polizei. „Gerade beim Thema
psychisch erkrankter Einzeltäter und Einzeltäterinnen muss die
Zivilgesellschaft zwingend mit an den Tisch.“
## Mehr Behandlungskapazitäten
Es ist eine Forderung, die inzwischen selbst von Teilen der Polizei geteilt
wird. So plädierte nach dem Würzburg-Angriff Sebastian Fiedler, der Chef
des Bund Deutscher Kriminalbeamten, für einen Ausbau der psychiatrischen
Behandlungskapazitäten. Gerade Menschen mit bestimmten Arten von
Schizophrenie trügen ein „erhebliches Risiko“ in sich, zu Gewalttätern zu
werden. Auch Kriegstraumatisierte seien gefährdet. Der Fachkräftemangel in
der Psychiatrie sei auch „ein enormes Sicherheitsproblem“.
Laut Studien leben indes 95 Prozent der psychisch Erkrankten gewaltfrei.
Dennoch unterstützt auch Psychotherapeutin Sischka die Forderung: „Aktuell
betreut ein Psychiater im Quartal rund 1.000 Patienten. Eine intensive
Behandlung ist da nicht möglich, hier fehlt es an Personal.“
Auch Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchhardt (CDU) macht sich
Gedanken, welche Folgen aus der Tat zu ziehen sind. Vorerst gelte es die
Tat aufzuklären, sagt er der taz. Abhängig vom Motiv müssten dann
staatliche Maßnahmen ergriffen werden. Eines ist Schuchhardt aber schon
heute klar: „In jedem Falle ist die psychologische Begleitung geflüchteter
Menschen aus Kriegsregionen erheblich zu verbessern.“
2 Jul 2021
## LINKS
[1] /Messerangriff-in-Wuerzburg/!5783212
[2] https://www.dw.com/de/begegnung-mit-dem-amokl%C3%A4ufer-von-w%C3%BCrzburg/a…
[3] /Anschlag-in-Berlin/!5702995
[4] /Attentaeter-von-Hanau/!5748592
[5] https://www.europol.europa.eu/activities-services/main-reports/european-uni…
[6] https://violence-prevention-network.de/
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Würzburg
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„Islamischer Staat“ (IS)
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