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# taz.de -- Elternschaft und Arbeit: Mütter als Störfaktor
> Eine Thüringer Stadträtin wird angezeigt, weil sie ihr Baby zur Sitzung
> mitgenommen hatte. Wieder einmal soll eine Mutter verdrängt werden.
Bild: Auch Annalena Baerbock musste sich die Frage gefallen lassen: Mutterschaf…
„Heute haben es Frauen in der Politik nicht mehr schwerer.“ Erst eine Woche
ist es her, dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble diesen Satz
gegenüber der Bild am Sonntag sagte. Ein Satz, über den man eigentlich nur
hämisch lachen kann.
Der Politikbetrieb ist in Deutschland noch immer eine Männerdomäne, Frauen
sind in allen Bereichen unterpräsentiert: Egal ob es um den Posten eine:r
Ministerpräsident:in oder Bürgermeister:in geht. An diesem Fakt
änderte auch eine 16 Jahre lange Kanzlerinnenschaft nichts.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Dazu zählen die Vorurteile und
Anfeindungen, der Hass und die Hetze bis hin zu Vergewaltigungs- und
Morddrohungen, den Politiker:innen ausgesetzt sind und gegen die sie
in ihrem Berufsleben ankämpfen müssen. Dass Schäubles Aussage schlicht und
ergreifend falsch ist, lässt sich also nicht nur [1][durch Dutzende
Erfahrungsberichte von Politikerinnen] belegen, sondern auch an einem
aktuellen Fall aus Thüringen, der ein Schlaglicht auf die Diskriminierung
von Müttern im Politikbetrieb wirft.
Dort sieht sich Ann-Sophie Bohm aktuell mit einer Anzeige wegen
Kindeswohlgefährdung konfrontiert. Was sie getan hat? Die Co-Chefin der
Thüringer Grünen und ihr Ehemann, beide Stadträt:innen in Weimar, hatten
Mitte Juni ihr sechs Monate altes Baby zu einer Sitzung mitgenommen.
Einer anonymen Person, die die Stadtratssitzung wohl über den Livestream
mitverfolgt hatte, missfiel das offensichtlich und so erstattete sie
Anzeige. Die Begründung: Es sei einem Baby nicht zuzumuten, so spät am
Abend noch wach zu sein. Das Jugendamt wurde eingeschaltet. [2][Bohm machte
den Fall diese Woche bei Twitter öffentlich].
## Keine Elternzeit für Politiker:innen
Laut Anzeige soll das Baby bis 22 Uhr im Sitzungssaal gewesen sein. Bohm
widersprach und sagte gegenüber dem MDR, ihr Mann habe die Sitzung mit dem
Baby gegen 20.30 Uhr verlassen. Doch ganz unabhängig von der Uhrzeit, ist
es unwahrscheinlich, dass es dem oder der Anzeigenerstatter:in
wirklich um das Wohl des Kindes ging, sondern eher um Eltern-
beziehungsweise Mütterfeindlichkeit. So kommentierte auch Bohm: „Man
versucht offenbar, Menschen mit kleinen Kindern aus der Politik zu drängen.
Die Politik braucht aber genau diese Menschen.“
Die Geschichte von Bohm ist kein Einzelfall. Das Problem kein
individuelles, sondern ein strukturelles. Die Vereinbarkeit von Politik und
Care-Arbeit ist schwer, Sitzungen finden meistens spät bis in die Nacht
statt, eine Kinderbetreuung für die Zeit wird in der Regel nicht angeboten,
so auch nicht im Stadtrat von Weimar. Bei Abstimmungen können sich
Politiker:innen nicht vertreten lassen, und weder
Bundestagsabgeordneten noch ehrenamtlichen Bürgermeister:innen oder
Stadträt:innen steht eine Elternzeit zu.
Dass Kinder überhaupt in politische Sitzungen mitgenommen werden dürfen,
ist keine Selbstverständlichkeit. Im August 2018 wurde die
Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling mit ihrem sechs Wochen alten Baby vom
Landtagspräsidenten des Thüringischen Landtags aus dem Plenarsaal
verwiesen. Nach dem Rausschmiss entwickelte sich eine Debatte über die
Vereinbarkeit von Kindern und Arbeiten in der Politik.
Henfling und die Landtagsfraktion der Grünen hatten gegen den Rausschmiss
geklagt – und Recht bekommen. Das Thüringer Verfassungsgericht urteilte
2020, dass Eltern künftig ihre Kinder bis zum 1. Lebensjahr zu
Landtagssitzungen mitbringen dürfen.
Ein Fortschritt, doch keiner, der das Problem in Gänze löst. In den
vergangenen Jahren kam es weltweit immer wieder zu Skandalisierungen und
Diskussionen, wenn Politiker:innen ihre Babys mit zu Sitzungen
brachten oder sie stillten. Gleichzeitig fehlen in vielen politischen
Institutionen noch immer Stillräume.
## Kaum Schutz am Arbeitsplatz
Doch es ist nicht nur die Politik, die systematisch versucht, Mütter zu
verdrängen. Eltern werden in Betrieben in der Regel als Störung
wahrgenommen – das betrifft zwar Mütter und Väter, doch nicht
gleichermaßen. Noch immer liegt ein Großteil der Verantwortung der
Care-Arbeit bei den Müttern, die Coronakrise hat diesen Zustand nur noch
einmal verschlimmert.
Die Diskriminierung am Arbeitsplatz von Eltern reicht von abgelehnten
Bewerbungen wegen Schwangerschaft bis hin zu torpedierten
Elternzeitanträgen, Jobkündigungen, Degradierungen nach der Elternzeit,
schlechteren Karrierechancen bis hin zu unflexiblen Arbeitszeiten und
wichtigen Meetings in Abendstunden.
Doch Eltern sind in Deutschland gesetzlich am Arbeitsplatz nicht genügend
geschützt, im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) werden sie nicht
mitgedacht. Denn obwohl es knapp 30 Millionen Elternteile in Deutschland
gibt, die mit einem Kind unter 18 Jahren in einem Haushalt leben und die
Diskriminierung von Eltern am Arbeitsplatz hinreichend bekannt und belegt
ist, wird der Aspekt der Elternschaft im AGG nicht berücksichtigt.
Und das ist nur ein Aspekt, der sich verändern müsste. Es braucht eine
Politik, die durch finanzielle Maßnahmen und Gesetze die Unvereinbarkeit
von Lohn- und Care-Arbeit auflöst – wie mit umfangreichen
Betreuungsangeboten, flexibleren Arbeitszeiten, dem Abbau von steuerlichen
Nachteilen für Mütter und am besten gleich der Abschaffung der
40-Stunden-Lohnarbeitswoche.
Doch Gesetze allein werden nicht reichen – auch das zeigt der Fall von Bohm
– es braucht dazu auch noch eine Gesellschaft, die dieser Vereinbarkeit den
nötigen Raum gibt.
21 Jul 2021
## LINKS
[1] https://www.zeit.de/campus/2021-07/sexismus-politik-politikerinnen-instagra…
[2] https://twitter.com/green_annsophie/status/1417393480150704133?s=20
## AUTOREN
Carolina Schwarz
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