| # taz.de -- Die These: Gegen die ‚neue Normalität‘ | |
| > Das nahende Ende der Pandemie löst ein psychisches Unbehagen aus. Daran | |
| > zeigt sich, dass die Rückkehr zum Gewohnten enttäuschend sein muss. | |
| Bild: Nach Monaten in sozialer Distanz kehrt das „normale“ Leben langsam zu… | |
| Seit Tagen ist das Wetter super, und die Leute erobern sich die Stadt | |
| zurück. Cafés, Restaurants, Parks – überall sitzen sie in großen und | |
| kleinen Gruppen und genießen die Sonne. Die Museen und Theater haben wieder | |
| auf – culture is healing. Gefühlt ist alles wieder normal, und die Menschen | |
| genießen es. | |
| Alle Menschen? Nein, ich nicht. Ich fühle mich ausgeschlossen von einem | |
| Alltag, dem ich skeptisch gegenüberstehe, an dem ich eigentlich gar nicht | |
| richtig teilhaben will. | |
| Die Normalität kommt zurück. Und das ist absolut kein Grund zur Freude. | |
| In den Parks machen viele wieder Sport, veranstalten kleine Partys – und | |
| ich liege einfach nur herum. In den Restaurants werden die Tische zu | |
| Gruppen zusammengestellt, und ich schiebe die nächste Tiefkühlpizza in den | |
| Ofen. Die Terminbuchungen zum Einkaufen sind häufig ein schlechter Scherz, | |
| und die Schlangen führen durch die halbe Stadt. Es gibt viele | |
| Gelegenheiten, bei denen ich mir denke, dass ich gern Teil davon wäre, | |
| obwohl ich es nicht genießen würde. Ich fühle mich, als hätte mir die | |
| Pandemie den Spaß geklaut; und jetzt, wo ich ihn zurückhaben könnte, will | |
| ich nicht mehr. | |
| ## Fomo und Cave-Syndrom | |
| Ich leide an Fomo, der fear of missing out – der Angst, etwas zu verpassen. | |
| Wer darunter leidet, nimmt die Welt so wahr, als ob alle total viel erleben | |
| und unternehmen – nur das eigene Leben scheint langweilig und trist, man | |
| fühlt sich ausgeschlossen und ungenügend. Als Begriff wird Fomo häufig mit | |
| der ausufernden Nutzung von Social Media in Verbindung gesetzt. Auf Corona | |
| bezogen: Alles ist wieder normal, und überall herrscht die große | |
| Erleichterung, nur bei mir nicht. Die Menschen haben eine tolle Zeit, und | |
| ich bin nicht dabei. Mein Unbehagen ist einfach zu groß. | |
| Dazu muss man wissen: Ich bin in eine neue Stadt gezogen. Während einer | |
| Pandemie ist das sozial gesehen ein suboptimales Unterfangen. Auf der | |
| anderen Seite ist es auch eine gute Ausrede: Wenn man eh nichts unternehmen | |
| darf, liegt es zumindest nicht an mir. Das ist jetzt hinfällig. Ich frage | |
| mich also, ob ich jetzt nicht einfach neidisch auf die anderen bin, weil | |
| meine engsten Freund*innen nicht hier sind. Neidisch, weil ich nicht mit | |
| ihnen im Restaurant sitzen, ins Theater gehen kann. Neidisch, weil sie sich | |
| weit weg und ohne mich treffen. | |
| Aber je mehr ich mit anderen darüber rede, desto deutlicher wird mir: Ich | |
| bin damit nicht allein. Auch sie blicken mit einem Unbehagen, einem | |
| Unwohlsein auf die aktuelle Aufbruchstimmung. Die neuen alten Freiheiten | |
| müssen erst wieder erlernt werden. Andere erzählen mir, wie sie von | |
| Menschengruppen bis zur physischen Erschöpfung überfordert sind. Zum | |
| Beispiel davon, dass sie nach einem kurzen Shopping-Trip eigentlich einen | |
| Mittagsschlaf bräuchten. Gruppensituationen lösen eine grundsätzliche | |
| Anspannung aus, und wir sind die physische Anwesenheit vieler Menschen | |
| nicht mehr gewöhnt. Es entsteht ein reflexhafter Panikmodus. | |
| Damit berühre ich eine weitere [1][psychologische Folge der Pandemie, das | |
| sogenannten Cave-Syndrom]. In der Isolation der eigenen Höhle („cave“) | |
| haben wir eine regelrechte Angst vor Menschenansammlungen entwickelt. Das | |
| ist auch alles völlig nachvollziehbar. Eineinhalb Jahre haben wir uns | |
| antrainiert, Versammlungen, egal welcher Größe, mit Vorsicht – oder besser | |
| noch: gar nicht – zu genießen. Freunde treffen? Kultur erleben? Spaß haben? | |
| Unverantwortlich oder zumindest verdächtig. | |
| Dabei würde ich nicht sagen, dass Angst vor Corona mein momentanes ungutes | |
| Gefühl bestimmt. Ich bin zwar noch nicht immunisiert, aber bei den | |
| niedrigen Fallzahlen und den Fortschritten beim Impfen habe ich keine | |
| besonders große Angst vor einer Ansteckung. Ich finde es nicht mehr | |
| verantwortungslos, dass sich Menschen in Cafés treffen. Die momentane | |
| Skepsis ist nur vordergründig von pandemischer Risikoabwägung geprägt, | |
| sondern viel mehr vom Gefühl, etwas verpassen zu können. | |
| Beim momentanen Gefühl, etwas zu verpassen, ist nicht nur der eigene | |
| Ausschluss psychologisch erzeugt, sondern die gesamte Situation. Man blickt | |
| mit einem fast schon melancholischen Gefühl auf etwas, das man gar nicht | |
| will. Ich will jetzt gerade einfach nicht drin in einer vollen Kneipe | |
| sitzen, aber ich würde es gern wollen. Wenn dieses Gefühl mit Neid | |
| zusammenhängt, dann indem man neidisch auf etwas ist, vor dem man selbst | |
| zurückschreckt. | |
| Die vielen Möglichkeiten erzeugen auch einen absurden Druck. Diese Angst, | |
| etwas zu verpassen, was man so lange nicht tun konnte. Mit Lethargie steht | |
| man dem gefühlten Überangebot gegenüber, wie wenn man sich im Supermarkt | |
| zwischen zwanzig Waschmitteln entscheiden muss. Oder um es mit der Band | |
| „Wir sind Helden“ zu sagen: Wir müssen nur wollen. | |
| In den 15 Monaten Dauerkrise und Verzicht hat sich die Erwartung einer | |
| großen Ekstase aufgebaut: „Wenn das erst mal wieder erlaubt ist, dann …“. | |
| Als das erste frisch gezapfte Bier dann auf dem Tisch stand, war es nicht | |
| gerade eine Geschmacksexplosion. Als man „endlich“ wieder in eine Kneipe | |
| gehen konnte – bin ich auf der Türschwelle umgedreht. Die Sehnsucht nach | |
| Normalität war riesig geworden, und jetzt stellt man fest, dass diese | |
| Normalität einfach nur – normal ist. Es ist doch eine riesige Enttäuschung, | |
| dass es jetzt wieder so wie früher ist. | |
| ## Neue Normalität? Alte Ausbeutung! | |
| Auch vom individuellen Alltag abgesehen, befinden wir uns im Umbruch zum | |
| new normal, der neuen Normalität. Die ist aber keineswegs eine bessere | |
| Normalität, und vieles hat durch die Pandemie noch mal eine neue Dimension | |
| gewonnen. Wir haben gelernt, wie entspannt es ist, Essen einfach liefern zu | |
| lassen. Dabei sind die Arbeitsbedingungen furchtbar, und so [2][streiken | |
| beispielsweise gerade Berliner Fahrer*innen beim Start-up-Lieferdienst | |
| Gorillas], weil ihr Kollege wegen einer minimalen Verspätung entlassen | |
| wurde. Oder es wurde endlich öffentlich diskutiert, wie miserabel die | |
| Arbeits- und Lebensbedingungen migrantischer Saisonarbeiter*innen | |
| sind, aber auch nur, [3][weil sie plötzlich als Gefahr für die Gesundheit | |
| der hier dauerhaft Lebenden gesehen wurden]. Und niemand kann mehr | |
| ignorieren, dass unsere Arbeitsgesellschaft zum Großteil aus Bullshit-Jobs, | |
| faktischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, besteht, auf die man ohne große | |
| Verluste verzichten kann. | |
| Die Krise hat gezeigt, dass unsere Normalität kein Sehnsuchtsort ist. Für | |
| viele bedeutet Normalität Ausbeutung, Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt | |
| und Elend. In dieser Hinsicht war dann auch das letzte Jahr | |
| gezwungenermaßen relativ normal. Gerade prekäre Arbeit musste weiter | |
| verrichtet werden, nur mit Gesundheitsrisiko und unter besonderem Druck. | |
| Die Wahrnehmung einer grundlegenden Abweichung von der Normalität hing | |
| sicherlich auch mit der Möglichkeit des Homeoffice zusammen. Damit ist die | |
| Frage der Rückkehr zur Normalität auch ein Stück weit ein Luxusproblem. | |
| Erst durch die coronabedingte Abweichung und die Rückkehr zu ihr wird | |
| deutlich, wie beschissen diese Normalität ist. Wir hadern mit der | |
| Diskrepanz zwischen der Hoffnung, die mit ihr verbunden wird, und der | |
| Trostlosigkeit, die sie tatsächlich bedeutet. [4][Wer will sich schon durch | |
| volle Einkaufshäuser und Innenstädte quetschen?] Wer will schon einen | |
| Alltag haben, den man nur mit zwanghaften Ersatzhandlungen wie Sport oder | |
| Feiern erträgt? | |
| Dass ich mit meinem Unbehagen nicht allein bin, zeigt mir, dass das ein | |
| nachvollziehbarer, widersprüchlicher Umgang mit dem Ende einer langen Krise | |
| ist. Und dass die Normalität, zu der wir jetzt zurückkommen, einfach eine | |
| Enttäuschung ist. Unsere Psyche reibt sich daran, dass die Rückgewinnung | |
| der Freizeit nicht die gesamtgesellschaftlichen Probleme überdecken kann. | |
| Die psychische Krise, die auf die Pandemie folgt, ist Symptom einer | |
| kaputten Gesellschaft. The new normal sucks. | |
| 14 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.fr.de/wissen/cave-syndrome-als-folge-der-corona-pandemie-angst-… | |
| [2] /Arbeitskampf-bei-Lieferdienst-Gorillas/!5774459 | |
| [3] /Nach-Corona-Ausbruch-auf-Spargelhof/!5766037 | |
| [4] /Die-These/!5760489 | |
| ## AUTOREN | |
| Christoph Sommer | |
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