# taz.de -- Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst: Hausverbote wie Bonbons | |
> Zwei ehemalige Jugendliche beklagen rabiaten Umgang. Die Betreuer riefen | |
> zu häufig die Security. Forschungsbericht regt Neukonzeption an. | |
Bild: Ein Aufenthaltsort für Ben und seine damaligen Mitbewohner tagsüber: de… | |
Hamburg taz | Als Chris* 2018 beim Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) war, | |
passierte es, dass er abends zu spät kam. Als Strafe musste er morgens früh | |
um acht das Haus verlassen. Im Winter sei das hart gewesen, sagt er. „Weil, | |
man ist ja dort, weil man kein Zuhause hat. Weil man nirgendwo hin kann. Es | |
ist arschkalt und man muss den ganzen Tag draußen sein.“ | |
Der KJND ist die zentrale Anlaufstelle in Hamburg für Minderjährige, die | |
nicht mehr zu Hause wohnen können und eine neue Bleibe brauchen. Die taz | |
hatte [1][Anfang April über einen Hilferuf von Mitarbeitern] des | |
Landesbetriebs Erziehung (LEB) berichtet, der den KJND betreibt. | |
Mitarbeiter würden angewiesen, über Erniedrigung von Kindern und schwarze | |
Pädagogik zu schweigen, hieß es in dem Brief, der bei der Linken einging. | |
Die stellte eine Anfrage und erfuhr, dass beim KJND auffällig viele | |
Jugendliche als „entlaufen“ gemeldet wurden. | |
Chris ist ein Kumpel von Ben*, der sich auf den Artikel hin bei der Linken | |
meldete. Er wollte erklären, warum Jugendliche dort oft abhauen. Beide sind | |
inzwischen 19 Jahre, damit gerade zu alt für den KJND. Sie möchten nicht | |
mit ihren richtigen Namen in der Zeitung stehen. | |
„Es ist halt so, dass du als Jugendlicher beim KJND keine Rechte hast“, | |
sagt Ben. „Man kann noch nicht mal eine Diskussion mit einem Betreuer | |
führen, ohne dass direkt [2][drei Sicherheitstypen] hinter dir stehen.“ Die | |
Betreuer säßen im Büro und hätten dort ein Funkgerät. „Die Tür ist meis… | |
zu, also man kann nicht mit ihnen sprechen“. Diskutiere man an der Tür mit | |
einem Betreuer, könne es passieren, dass der zum Walkie-Talkie greife und | |
„Einmal hochkommen!“ zur Security sagt. Ginge ein Jugendlicher mit denen | |
nicht mit, „legen sie dich zu Boden“, sagt Ben. | |
## Blödsinn machen, um die Zeit rumzukriegen | |
Chris erinnert, wie Jugendliche, die abends zu spät kamen, sich morgens | |
weigerten, das Haus zu verlassen. „Dann wurden oft die Securities gerufen.“ | |
In einer Gruppe hatte er das Gefühl, dass die Betreuer es amüsant fanden, | |
dass der Jugendliche „mit den Securities beschäftigt ist und unterlegen | |
ist“. Ben berichtet, es würden den auf dem Boden Liegenden mitunter Hände | |
und Füße mit Klettbändern verschnürt. Das sei bei einem Zwölfjährigen | |
passiert. | |
Chris ist ein ruhiger junger Mann, der inzwischen seinen Schulabschluss | |
hat, bei der Kirche hilft und bald eine Lehre machen will. Er sagt, Regeln | |
müsse es geben, aber dass die Jugendlichen tagsüber raus müssten, sei | |
„schwachsinnig“. „Weil, die überlegen sich, irgendwelchen Blödsinn zu | |
machen, um die Zeit rumzukriegen.“ Und nicht selten kämen sie abends dann | |
„vollgedröhnt mit irgendwelchen Drogen auf die Gruppe“. Ben sagt, viele | |
Jugendlichen fingen dort das Rauchen, Trinken und Kiffen an. | |
Ben war über drei Jahre mit kurzen Unterbrechungen im KJND und erinnert | |
einiges anders als Chris. Da er seine weit entfernte Schule nicht mehr | |
besuchte und die interne KJND-Schule nur wenig Plätze hat, hätte er wie die | |
meisten morgens um acht Uhr das Haus verlassen müssen. „Sie werfen dich | |
raus. Dann darfst du nach 13 Uhr wieder reinkommen, kurz Mittag essen, und | |
sie werfen dich wieder raus.“ Das Gruppenleben hätten die Jugendlichen | |
selber organisiert, und zwar vor der Tür in der Raucherecke. Wegen der | |
Kälte hätte er die Tage oft in der U-Bahn verbracht oder bei gutem Wetter | |
auf dem Alsterdorfer Marktplatz nebenan. | |
Beide sagen, so groß wie der KJND aufgestellt sei mit 36 Plätzen, sei die | |
Security wichtig. Jüngere hätten sonst Angst, dass ihnen Ältere etwas | |
täten. „Nur die Macht der Betreuer sollte überdacht werden“, sagt Ben, der | |
später selber Erzieher werden will. „Man sollte den KJND abreißen und was | |
Neues schaffen.“ Chris fände kleine dezentrale Einrichtungen sinnvoll. Dann | |
bräuchte man keine Security. | |
Ben kritisiert auch die Haltung der Einrichtung. Den Jugendlichen würde oft | |
unterstellt, dass sie lügen. Chris sagt, in seiner Gruppe habe er auch | |
nette Pädagogen erlebt. Ben sagt, es würden „Hausverbote wie Bonbons“ | |
verteilt. Ein Mädchen sei abends vor die Tür gesetzt worden, dann von der | |
Polizei am Hauptbahnhof aufgegriffen und in eine Zelle gesteckt worden, | |
nachdem Betreuer eine Vermisstenanzeige stellten. | |
## Hochproblematische Erfahrungen | |
Interessant sind die Schilderungen der beiden auch vor dem Hintergrund | |
eines Forschungsprojekts namens „Qualitätsdialoge – Jugendamt in Bewegung�… | |
Ein Team rund um den Berliner Wissenschaftler Timo Ackermann sprach mit | |
Jugendlichen und Eltern über ihre Erfahrungen mit der Hamburger | |
Jugendhilfe. In dem Abschlussbericht, der der taz vorliegt, heißt es, schon | |
beim ersten Treffen hätten Jugendliche von „hoch problematischen | |
Erfahrungen“ mit dem KJND berichtet. Zu lesen ist dann die Fallgeschichte | |
eines Elfjährigen, der beim KJND zunächst noch zur Schule ging, dann aber | |
anfing, mit den anderen Jugendlichen „herumzuhängen“ und binnen weniger | |
Wochen mit Drogen dealte. Der Bericht problematisiert auch den | |
Sicherheitsdienst und kommt zu dem Schluss, der KJND gehörte „geschlossen | |
oder jedenfalls ganz neu erfunden“. | |
Der Forscher wollte sich gegenüber der taz nicht äußern, das müssten die | |
Auftraggeber tun. Die Sozialbehörde erklärte, der KJND sei eines unter | |
vielen Themen gewesen, die in diesem Qualitätsdialog zur Sprache kämen. | |
Konkreten Vorwürfen, die sich auf unzureichenden Schutz von Kindern und | |
Jugendlichen bezögen, werde „umfassend nachgegangen“. | |
LEB-Geschäftsführer Klaus-Dieter Müller erklärte, der KJND sei kein Ort, wo | |
Drogenbesitz, -konsum oder -handel geduldet werde. Die Annahme, junge | |
Menschen seien durch andere Betreute gefährdet, sei falsch. Einzelne | |
hielten sich an gefährdenden Orten auf, deren Bewegungsraum einzuschränken, | |
sei nicht möglich. Man sei bemüht, kritische Ereignisse mit den | |
Jugendlichen aufzuarbeiten. Die gegenüber der taz geäußerten Mängel könnten | |
aber nicht nachvollzogen werden, da Einzelfälle nicht konkret benannt seien | |
oder den Tatsachen widersprächen. Die taz hatte 19 von Ben und Chris | |
genannte Kritikpunkte aufgeführt, auf die Müller nicht einzeln einging. | |
Die Linke Jungendpolitikerin Sabine Boeddinghaus sagte, sie frage sich, ob | |
beim KJND jederzeit die Bedürfnisse der jungen Menschen im Mittelpunkt | |
stünden. Sie kritisiere nicht die Mitarbeiter, sondern die Struktur. Es sei | |
verabredet, dass das Thema im Familienausschuss auf die Tagesordnung komme. | |
*Name geändert | |
7 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Missstaende-in-der-Hamburger-Jugendhilfe/!5758891 | |
[2] /Security-in-der-Hamburger-Jugendhilfe/!5509057 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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