# taz.de -- Klimapolitik von unten: „Schauen, wozu wir bereit sind“ | |
> Die Neuköllnerin Seher Cemen sitzt als eine von drei Berliner*innen | |
> im Bürgerrat Klima, der Empfehlungen für die Bundesregierung erarbeiten | |
> soll. | |
Bild: „Die Idee ist herauszufinden, was die Bürger*innen wollen“: Seher Ce… | |
taz: Frau Cemen, was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass Sie | |
für den Klimabürger*innenrat ausgelost wurden? | |
Seher Cemen: Als ich die E-Mail bekam, habe ich mich sehr gefreut. Ich war | |
und bin glücklich, Teil eines solch großen Projekts sein zu dürfen. Es | |
machen ja 160 Menschen aus ganz Deutschland mit. | |
Wussten Sie gleich, was das ist, der Klimabürger*innenrat? | |
Also, zuerst habe ich einen Anruf bekommen. Da wollte ich eigentlich gleich | |
wieder auflegen, weil ich dachte, da will mir jemand eine Waschmaschine | |
andrehen. Aber die Dame am Telefon klang sehr seriös und ehrlich. Dann habe | |
ich noch eine sehr gute, informative E-Mail bekommen und begriffen, dass | |
das kein Betrug oder Quatsch ist. | |
War Klimawandel ein Thema, mit dem Sie sich vorher schon beschäftigt haben? | |
Auf jeden Fall. Ich habe mal im Rahmen eines Werksstudentenjobs bei einer | |
gemeinnützigen Organisation gearbeitet, die sich für nachhaltige Lernkultur | |
einsetzt. Wir haben dort Unterrichtsmaterial für Schulen erstellt und bei | |
einem Projekt ging es speziell um Nachhaltigkeit und Klimawandel. Dabei | |
habe ich einen sehr tiefen Einblick in das Themengebiet bekommen. | |
Sie arbeiten also im Bildungsbereich? | |
Ich studiere zurzeit auf Lehramt, bin mir aber schon relativ sicher, dass | |
ich mich beruflich umorientieren und einen anderen Weg einschlagen werde. | |
Wie funktioniert nun der Bürgerrat? | |
[1][Wir hatten bis jetzt drei Sitzungen], in denen ging es erst mal darum, | |
einen gemeinsamen Wissensstand aufzubauen. Dafür wurden Expert*innen | |
eingeladen, vor allem Wissenschaftler*innen, die uns Fakten zum | |
Klimawandel präsentiert haben. Beispielsweise wurden uns mehrere | |
Zukunftsbilder vorgestellt, wie es in Deutschland in 30 Jahren aussehen | |
könnte. Wir haben besprochen, was heutige Herausforderungen sind und was | |
sich bis dahin ändern könnte – zum Beispiel, was Alternativen zur | |
Massentierhaltung sein könnten oder wie wir uns als Gesellschaft eine neue | |
Genügsamkeit aneignen. | |
Und wie geht es weiter? | |
Jetzt werden wir in vier Handlungsfelder eingeteilt – Mobilität, | |
Gebäude/Wärme, Energie und Ernährung. In jeder Gruppe überlegen wir, wie | |
die Transformation angegangen werden kann. Wir sprechen spezifischer über | |
die Themen und entwickeln Ideen und Empfehlungen für die Politik. Am 23. | |
Juni ist die letzte Sitzung, dann kommen alle Teilnehmenden zusammen und | |
werden über die Empfehlungen abstimmen. | |
Aber woher sollen die kommen? | |
Von uns Teilnehmer*innen. Die Idee ist ja herauszufinden, was die | |
Bürger*innen wollen und was sie bereit sind für den Klimaschutz zu tun. | |
Demnach wurden wir repräsentativ ausgewählt: nach Alter, Geschlecht, | |
Bildungsabschluss, Ortsgröße, Bundesland, Migrationserfahrung. Die deutsche | |
Gesellschaft ist ziemlich gut abgebildet, denn wir sind wirklich sehr | |
verschieden. Es geht also um Empfehlungen der Bürger*innen! Dazu findet | |
vorab ein gemeinsamer Meinungsbildungsprozess statt: So bekommen alle | |
Teilnehmenden die Möglichkeit, den Ernst der Lage zu begreifen, um | |
dahingehend Empfehlungen zu entwickeln. | |
Am Ende wird eine Mehrheitsentscheidung gefällt? | |
Wahrscheinlich, so stelle ich mir das vor. In jeder Gruppe sind ja 40 | |
Leute, die sich erst mal auf bestimmte Dinge einigen sollen. Es kann | |
passieren, dass man da schnell in einer Bubble ist und sich im Plenum | |
herausstellt, dass andere eine Idee nicht umsetzbar oder gut finden. Aus | |
dem Grund stellen wir unsere Ergebnisse auch immer wieder dem Plenum vor. | |
Aber geht es darum, realistische Vorschläge zu entwickeln? Geht es nicht | |
darum, zu tun, was notwendig ist, um den Klimawandel aufzuhalten? | |
Na ja, die Empfehlungen sollen ja direkt in die Politik einfließen. Es ist | |
also eine Grundvoraussetzung, dass die Dinge, die wir fordern, umsetzbar | |
sind. Unrealistische Empfehlungen werden wahrscheinlich sowieso nicht ernst | |
genommen, egal wie wünschenswert sie für das Klima sind. | |
Aber wo ein Wille ist, ist ein Weg? | |
Ja, das ist der Punkt. Und es geht darum, Alternativen zu finden. Zum | |
Beispiel halte ich es für unrealistisch zu fordern, Inlandsflüge zu | |
verbieten, wenn es keine Alternativen wie gute Bahnverbindungen gibt. Man | |
kann den Leuten nicht verbieten zu reisen! Man muss schauen, zu was die | |
Gesellschaft bereit ist. Wenn Dinge verboten und keine Alternativen | |
entwickelt werden, wird es schwierig, die Bürger*innen mitzunehmen und | |
zu motivieren. Es wurde bei den ersten Treffen auch schon deutlich, dass im | |
Bürgerrat einige kritische Stimmen vertreten sind. | |
Kritisch inwiefern? | |
Sie besorgt das Thema Klimawandel nicht so sehr, und sie blicken auch mit | |
einer gewissen Unsicherheit in die Zukunft. Beispielsweise habe ich einige | |
Teilnehmende mitbekommen, die meinen, sie könnten nicht aufs Autofahren | |
verzichten. Genau mit diesen Menschen müssen wir ins Gespräch kommen. Warum | |
meinen sie, ihr Auto zu brauchen? Weil der öffentliche Nahverkehr dort, wo | |
sie leben, nicht so gut ist wie hier in Berlin? Ich als Berlinerin kann | |
deswegen vielleicht leichter sagen, ich brauche kein Auto. Verzicht ist bei | |
vielen ein großes Thema. | |
Das können ja noch heftige Diskussionen werden! | |
Ja, darauf freue ich mich sehr, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die ganz | |
andere Lebensumstände haben. Ich vertrete ja sozusagen die Hauptstadt oder | |
Großstadt in dieser Runde – zusammen mit zwei anderen Berliner*innen. Der | |
Austausch mit den Teilnehmenden ist mir wichtig. | |
Macht Ihnen der Klimawandel eigentlich Angst? | |
Angst ist nicht das richtige Wort, ich bin eher besorgt. Ich sehe den | |
Klimawandel als Bedrohung für das globale Allgemeinwohl. Wir in Deutschland | |
sind ja noch nicht sehr stark betroffen und leben sehr privilegiert. Klar | |
gibt es Veränderungen, etwa beim Wetter. Aber für Menschen in | |
Entwicklungsländern ist die Lage schon jetzt existenzbedrohend. Darum | |
müssen wir ins Handeln kommen, mit unserer Lebensweise in den | |
Industrieländern funktioniert das global nicht. | |
Spielt das Thema für Ihre persönliche Lebensplanung eine Rolle, zum | |
Beispiel, ob Sie Kinder haben möchten? | |
Ich möchte Kinder, aber heutzutage ist es wichtig zu bedenken, dass wir in | |
einer Zeit der Herausforderungen leben, und der Klimawandel gehört auch | |
dazu. Ich würde das intensiv in die Erziehung meiner Kinder einbringen und | |
versuchen, ihnen Werte beizubringen, die heute viele verlernt zu haben | |
scheinen. Ich denke oft daran, wie die Generation unserer Großeltern mit | |
Lebensmitteln und materiellen Gütern umgegangen ist und wie | |
verschwenderisch wir heute leben. Sie hatten eine ganz andere | |
Wertschätzung. Ich achte mittlerweile vermehrt auf meinen Fleischkonsum | |
oder überhaupt auf mein Konsumverhalten. | |
Zum Beispiel? | |
Ich liebe schöne Klamotten, bin ein absolutes Fashion Girl. Aber ich | |
überlege es mir inzwischen genau, ob ich mir ein günstiges T-Shirt aus dem | |
Fast-Fashion-Bereich kaufe, das ich eigentlich nicht brauche. | |
Vielen geht so ein Konsumverzicht ja schon zu weit. Wie ist das in Ihrem | |
Familien- und Freundeskreis? | |
Tatsächlich ist mein Umfeld in der Frage eher gespalten: Einige sind mehr | |
bereit zu tun, andere weniger. Aber durch viele aufklärende Gespräche, die | |
wir im Laufe der Zeit hatten, hat sich da auch schon was geändert. Zum | |
Beispiel haben wir früher in der Familie mehr Fleisch gegessen. Auch das | |
Fliegen ist bei uns ein großes Thema, aber da haben wir noch keine Lösung | |
gefunden. | |
Was meinen Sie? | |
Ich habe einen türkischen Migrationshintergrund und einmal im Jahr fliegen | |
wir – also meine Familie, viele Freunde – in die Türkei. Und es würde | |
vielen von uns schwerfallen, darauf zu verzichten. Das ist ja die einzige | |
Chance, die dort lebenden Familienmitglieder zu sehen – und die einzige | |
Chance auf einen rassismusfreien Urlaub noch dazu! Und für die Generation | |
meiner Eltern ist es auch nicht einfach Urlaub: Für sie bedeutet es, in die | |
Heimat zurückkehren. Dabei Abstriche zu machen ist wirklich schwierig. | |
Früher sind die Leute mit dem Auto gefahren, nicht geflogen. | |
Ja, wir haben das auch versucht. Aber das dauert 2 bis 3 Tage, für meine | |
Eltern ist das zu anstrengend inzwischen. Ich weiß nicht, was eine | |
Alternative wäre. Vielleicht Bahnfahren? Aber die Strecke ist noch nicht | |
ausreichend ausgebaut, das ist nicht realistisch. | |
Das wäre wieder Aufgabe der Politik. | |
Ja, genau. Bislang ist fliegen die einzige Option, das sollte darum auch | |
nicht einfach verboten werden. Bei Inlandsflügen ist das anders, man muss | |
ja wirklich nicht von Berlin nach München fliegen. Aber auch hier muss man | |
schauen, ob die Leute bereit sind, ihr Verhalten zu ändern. Und ich denke, | |
es ist die Aufgabe von Menschen wie uns, die an seriöse Quellen kommen und | |
Bildung haben, die anderen aufzuklären: über Alternativen und darüber, was | |
passiert, wenn wir so weitermachen. Das darf aber nicht mit dem Zeigefinger | |
passieren oder von oben verordnet werden. | |
Wenn Sie Königin von Deutschland wären, was würden Sie tun fürs Klima? | |
Es gibt drei Punkte, die mich persönlich sehr bewegen: Menschen, die | |
anderswo unter unserem Lebensstil leiden, die Textilindustrie und die | |
Fleischindustrie. Um hier etwas zu ändern, würde ich, wenn ich Königin von | |
Deutschland wäre, viel mehr Geld in die Bildung investieren und dafür | |
sorgen, dass der Klimawandel intensiv in den Schulen behandelt wird. | |
Politisch würde ich einen gesetzlichen Rahmen für die Textilindustrie | |
setzen, um der Ausbeutung der Menschen in den Fabriken ein Ende zu setzen | |
und kleine, nachhaltige Betriebe besser zu fördern. Auch bei der | |
Massentierhaltung muss ein strengerer gesetzlicher Rahmen her. Bei dem | |
Thema gibt es, glaube ich, auch eine große Bereitschaft, fleischlose | |
Alternativen auszuprobieren. Das muss politisch unterstützt werden, denn | |
Alternativprodukte sind leider immer noch sehr viel teurer als Fleisch. | |
Der Preis ist auch bei Textilien ein Problem | |
Eine nachhaltige Jeans kostet schon mal 200 Euro! Da muss etwas passieren, | |
damit auch Student*innen wie ich mit wenig Geld die Möglichkeit haben, | |
nachhaltig zu konsumieren. | |
20 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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