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# taz.de -- „The Woman in the Window“ auf Netflix: Fenster zur Streaming-We…
> „The Woman in the Window“ bedient sich bei Alfred Hitchcocks Klassiker
> „Fenster zum Hof“. Doch die Vorlage wird dem Film zum Verhängnis.
Bild: Nicht ganz so elegant wie Grace Kelly: Pyjamafrau Anna
Eine Frau, die Pyjama trägt, obwohl die Sonne hoch am Himmel steht. Sie
schaut gelangweilt aus dem Fenster, beobachtet ihre Nachbarn. „The Woman in
the Window“ kreist um ein Szenario, das vielen seit dem vergangenen Jahr
nur allzu bekannt vorkommen dürfte. Man könnte meinen, Netflix hat mit dem
Mystery-Thriller gerade den letzten großen Lockdown-Film veröffentlicht.
Aber Achtung, diese Hoffnung wird mindestens in einer Hinsicht enttäuscht:
Der von [1][Joe Wright („Abbitte“)] inszenierte Film ist leider weit davon
entfernt, „groß“ zu sein.
Und das, obwohl er sich mit dem Titel – wie die gleichnamige Buchvorlage
von A. J. Finn – sehr wohl auf eine riesenhafte Vorlage bezieht. In Alfred
Hitchcocks im Jahr 1954 erschienenem [2][„Das Fenster zum Hof“] beobachtet
ein durch ein Gipsbein an die Wohnung gefesselter Fotojournalist (James
Stewart) gemeinsam mit seiner Verlobten Lisa (Grace Kelly) seine Nachbarn.
In beiden Filmen werden die Voyeure Zeugen eines Mordfalls.
Besagte Pyjamafrau Anna [3][(Amy Adams)] beobachtet allein. Auch ihr Grund,
aus dem Fenster zu sehen, ist ein anderer: Sie leidet an Agoraphobie, also
der Angst davor, nach draußen zu gehen. Dass mit ihr eine Protagonistin im
Fokus steht, die an der Verwahrlosung entlangschrammt und damit wenig mit
dem Glamour zu tun hat, den James Stewart und Grace Kelly ausstrahlten,
verringert vielleicht das Sehvergnügen, kann dem Film aber nicht per se als
Malus angerechnet werden. Dass ihm grundsätzlich die Grandezza Hitchcocks
als selbstgewählten Bezugspunkt fehlt, wiederum schon.
Eine gerade ins Haus gegenüber eingezogene Familie ist das Einzige, auf das
Anna – und mit ihr auch die Zuschauenden – blicken. Unerreicht bleibt damit
der Charme des Hinterhofkonzepts der Vorlage, das Einblicke in zahlreiche
Fenster und, viel wichtiger, Leben bot.
## Blutleere Figuren ohne Identifikationsfläche
Wo Hitchcock virtuos wiederkehrende kleinere und größere Dramen mit in den
Film einwebte und so Suspense und Zwischenmenschliches gleichermaßen Raum
zugestanden bekamen, geht es bei „The Woman in the Window“ einzig um den
beobachteten Mordfall.
Anna hat nur zwei skurrile Begegnungen mit blutleeren Figuren ohne
Identifikationsfläche, die einzig dazu dienen, einen unangenehm konstruiert
wirkenden Plot voranzutreiben. Ethan (Fred Hechinger), der verstört
wirkende jugendliche Sohn der Familie, berichtet ihr bei einem spontanen
Besuch prompt von den Wutausbrüchen seines Vaters [4][(Gary Oldman)], auch
Mutter Jane [5][(Julianne Moore)] verweist gleich auf Familienprobleme.
Vielleicht weil sie ansonsten nur äußerst wenig menschlichen Kontakt hat,
irritieren die irritierenden Besuche Anna nicht weiter. Selbst Ehemann und
Tochter scheinen sich nur telefonisch bei ihr zu melden. Man glaubt, sie
hätten sich wegen Annas Krise zurückgezogen: Psychopharmaka kombiniert sie
mit Wein, den sie zu Schwarz-Weiß-Filmen herunterspült.
## Nur passable Dutzendware
Wegen dieser Mischung schenkt ihr die Polizei keinen Glauben, als sie
dieser von dem Mord erzählt. Anders als bei Hitchcock wird zwar gezeigt,
wie Jane ermordet wird – ob wirklich geschehen, soll aber wegen Annas
geistigen Zustands und einer übergroßen Menge erkennbar künstlichen Bluts,
das im entscheidenden Moment auf den Bildschirm spritzt, zweifelhaft
bleiben.
So ist die Ästhetik das gewichtigste Argument, das für „The Woman in the
Window“ spricht. Die labyrinthische Villa lädt an mehreren Stellen zu
hitchcockesquen Kamerafahrten ein. Hierin mag die generelle Krux des Films
liegen: Die Anleihen sind präsent und gelungen – ganz im Gegenteil zu den
eigenen Ideen, die es bräuchte, um einer bruchstückhaften modernen
Interpretation eigenes Leben einzuhauchen.
Am eklatantesten tritt diese Leerstelle gegen Ende zutage, wenn der Plot
mit einer Auflösung aus dem Genrebaukasten aufwartet. Für sich allein
gesehen wäre der Mystery-Thriller letztlich immer noch passable
Dutzendware. Erst der selbst heraufbeschworene Vergleich zu „Das Fenster
zum Hof“ erinnert schmerzlich daran, was möglich gewesen wäre – und daran,
dass Dutzendware zum neuen Standard der großen Streaming-Anbieter zu werden
droht.
28 May 2021
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## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
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