# taz.de -- Genozidforscher über Klima und Gewalt: „Klimakrise begünstigt G… | |
> Der Hamburger Globalhistoriker Jürgen Zimmerer warnt vor Gewalt in Folge | |
> der Erderwärmung. Zusammen mit Kolleg:innen hat er einen Appell | |
> verfasst. | |
Bild: Nur ein Vorbote: Waldbrand 2020 am Lake Hughes im kalifornischen Angeles … | |
taz: Herr Zimmerer, warum warnen Genozidforscher:innen plötzlich in | |
einem dramatischen Appell vor der Klimakrise? | |
Jürgen Zimmerer: Die Klimakrise ist die größte Herausforderung der | |
Gegenwart und betrifft auch uns Genozidforscher:innen. Wir, die wir uns mit | |
Massengewalt in Vergangenheit und Gegenwart befassen, dürfen und wollen | |
über die Gewaltpotenziale des Klimawandels nicht schweigen. Viele von uns, | |
wozu auch ich gehöre, fürchten, dass „ethnische Säuberungen“ und | |
[1][Genozide] deutlich zunehmen werden. Wie die Forschung zeigt, gibt es | |
eine enge Korrelation zwischen Krisen und Gewalt. | |
Das Papier richtet sich auch an Ihre eigene Zunft. | |
Ja. Unser [2][Appell] ruft zur programmatischen Erweiterung auf. Die | |
traditionell orientierte Genozidforschung war geprägt von den | |
Konfliktlinien des Kalten Krieges und dem „Sieg“ der westlichen Moderne. | |
Man ging lange davon aus, dass Genozide nur von Diktaturen verübt würden. | |
Die Demokratisierung erschien als Prävention. Genozide wurden als | |
Fehlfunktion und Störung in einem liberal-modernen Weltsystem | |
interpretiert. Aber diese Position ist ideologisch und klammert einen | |
wichtigen Punkt aus: Die Frage, ob diese Gewalt wirklich nur eine „Störung“ | |
innerhalb eines „funktionierenden“ Systems ist – oder ob das System selbst | |
die Gewalt mitproduziert. | |
Der Kapitalismus zum Beispiel. | |
Ja, zumindest in der Variante des extremen Verschwendungs- und | |
Raubbaukapitalismus, wie er sich im Zuge der europäischen Expansion in den | |
letzten 600 Jahren über die Welt ausbreitete. Während der [3][kolonialen | |
Globalisierung] haben Europa und seine siedlerkolonialen Ableger sich in | |
einem Prozess der Ressourcenakkumulation nach und nach den ganzen Globus | |
unterworfen. Diese Expansion ist jedoch an ihre geografischen Grenzen | |
gelangt, und wir befinden uns derzeit im Übergang von der kolonialen zur | |
postkolonialen Globalisierung, dessen Folgen wir mental noch nicht | |
erfassen. | |
Warum nicht? | |
Weil wir uns angewöhnt haben, auf Kosten anderer über unsere Verhältnisse | |
zu leben. Deshalb fällt uns die Einsicht, dass dieser Modus geändert werden | |
muss, sehr schwer. Dass das für uns lange „gut ging“, hat zu einer | |
Mentalität geführt, die es uns unmöglich macht, uns auf die Notwendigkeiten | |
der [4][Klimakrise] einzulassen: Nachhaltigkeit und Wohlstandsverzicht. Der | |
ist aber im globalen Maßstab notwendig, um die Klimakatastrophe noch | |
abzuwenden. Und da ist der globale Norden – einschließlich China – in der | |
Pflicht. Denn hier sitzen die Hauptverursacher, während die Auswirkungen | |
stärker im globalen Süden zu spüren sind. Wir müssen dafür sorgen, dass es | |
auch im globalen Süden die Chance auf Wohlstandsaufbau gibt, bei | |
gleichzeitiger Abfederung der Klimafolgen. Sonst wird Massengewalt | |
wahrscheinlicher. | |
Und wo kommt Genozid ins Spiel? | |
Die Geschichte der Genozide lässt sich auch als Geschichte von Krisen und | |
Ressourcenkonflikten schreiben. Im Kern kann die Klimakrise auch als | |
Ressourcenkrise verstanden werden, mit einer bereits einsetzenden | |
Verknappung von Land, das bewirtschaftet und bewohnt werden kann. | |
Verknappungskrisen erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. Sie kann | |
individuell sein, indem jeder gegen jeden kämpft. Oder aber, | |
wahrscheinlicher: Eine Gruppe wird gewalttätig gegen eine andere, | |
entrechtet, vertreibt oder ermordet sie. In derartigen Krisensituationen | |
wird oft auf alte Feindbilder und ideologische Konstruktionen der/s | |
Anderen, der/s Fremden zurückgegriffen. Der Übergang zum Genozid ist | |
fließend. | |
Ihr Appell zeichnet noch ein weit größeres Gewaltszenario mit Millionen | |
Toten. | |
Ja. Mit der Größe der Krise steigt nicht nur die Wahrscheinlichkeit für | |
genozidale Gewalt, sondern auch deren Dimension. Sei es durch multiple | |
Gewaltkonflikte, sei es durch ineinander übergehende Gewaltherde. Wie wir | |
wissen, beeinflussen Konflikte kaskadenhaft auch die jeweils umliegenden | |
Gebiete, und sei es durch Migrationsbewegungen. Was wir jetzt an | |
coronabedingten staatlichen Einschränkungen unserer Freiheitsrechte | |
erleben, ist nichts im Vergleich zu dem, was kommen wird, wenn das Polareis | |
geschmolzen und halb Kalifornien abgebrannt ist, die Niederlande und | |
[5][Bangladesch] unter Wasser stehen. Und je später wir die Kurskorrektur | |
einleiten, desto drastischer werden die Maßnahmen sein. | |
Auch die Migration wird zunehmen. | |
Ja, und Europa wird sich nicht abschotten können. Damit stellt sich die | |
Frage: Wird Europa bereit sein, seine Grenzen noch stärker mit Waffengewalt | |
gegen Klimageflüchtete zu verteidigen, wird man auf Menschen schießen | |
lassen? Und was macht das mit dem Liberalen, Freiheitlichen, Humanitären, | |
auf das sich Europas Selbstverständnis gründet? Wird das autoritäre | |
Tendenzen weiter stärken? Wir erleben schon jetzt einen Rechtsruck, eine | |
Verteidigungsbewegung, um die Welt, wie man sie kennt, aufrecht zu | |
erhalten. Dabei ist gerade dies fatal: Eingefrorene Gesellschaften sind | |
notorisch unflexibel, um auf neue Herausforderungen zu reagieren. Was wir | |
stattdessen brauchen, ist ein völlig neues Denken über die Welt. | |
Das heißt? | |
Wie brauchen ein Denken, das nicht mehr um die Ideologie des Konsums und | |
des Wachstums kreist, sondern auf Solidarität und Teilen von Wohlstand | |
setzt. Je früher wir damit anfangen, desto weniger drastisch werden die | |
irgendwann unweigerlich kommenden Einschnitte sein müssen. Statt | |
Raubbaukapitalismus brauchen wir globale soziale Gerechtigkeit. | |
Welchen Beitrag kann die Genozidforschung da leisten? | |
Sie muss ihre Perspektive ändern. Die Genozidforschung hat sich bislang | |
stark auf ideologische Ursachen konzentriert. Das liegt daran, dass sie aus | |
der Holocaust-Forschung kommt und deren Blick auf das ideologische Moment – | |
Antisemitismus etwa – übernommen und strukturelle Ursachen zu wenig | |
berücksichtigt hat. Wenn man aber nur ideologisch „irregeleitete“, | |
pathologische Verbrecher für Gewaltausbrüche verantwortlich macht, heißt | |
das auch: Wir anderen sind es nicht. Wir sind die „Guten“. | |
Eine Täuschung. | |
Eine Selbsttäuschung. Wenn man die systemischen Ursachen für Raubbau, | |
Klimawandel und die aus beidem resultierende Gewalt einbezieht, werden wir | |
von Zuschauern zu Tätern. Das heißt: Wer hier einen SUV fährt, wer | |
Klimaschutzpolitik blockiert, ist mitverantwortlich für Gewaltausbrüche | |
andernorts. | |
22 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Jahrestag-Voelkermord-in-Ruanda/!5759169 | |
[2] https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/2021/04/07/genocide-studies-and-… | |
[3] /Historiker-ueber-Caritas-Gruender-Werthmann/!5759220 | |
[4] /Reduktion-der-Treibhausgase/!5762366 | |
[5] /Klimakrise-aus-Sicht-des-Globalen-Suedens/!5710052 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## TAGS | |
Erderwärmung | |
Genozid | |
Klimaflüchtlinge | |
Kolonialismus | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Hamburg | |
klimataz | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Trockenheit | |
Wald | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Klimagerechtigkeit beim Flugverkehr: Die Verschmutzer*innen-Elite | |
Vielfliegen ist besonders klimaschädlich. Eine neue Studie zeigt, dass | |
wenige Reiche für einen Großteil des globalen Flugverkehrs verantwortlich | |
sind. | |
„Masterplan Wasser“ vorgestellt: Vorsicht bei zu viel Durst | |
Noch deckt Berlin seinen Wasserbedarf problemlos selbst – aber Klimawandel | |
und Bevölkerungswachstum drohen. Ein Masterplan soll Problemen vorbeugen. | |
Klimaexperiment in Rheinland-Pfalz: Italienische Eichen am Rhein | |
Das Waldsterben durch den Klimawandel macht es nötig: Der Anbauverband | |
Naturland diskutiert seine Richtlinien für naturnahe Forste. |