| # taz.de -- Coronaruhe geht langsam vorbei: Muss ich nicht haben | |
| > Schön ruhig war’s im Lockdown. Doch nun geht der Amüsierzwang wieder los. | |
| > Für manche alten Feierbiester kommt das viel zu spät. | |
| Bild: Aus der Lockdown-Frieden: Die Coronaruhe, die manche im Homeoffice verbra… | |
| Tja, schade. [1][Der Lockdown-Frieden ist zerstört.] Es war eine schöne | |
| Zeit, ohne Verpflichtungen, ohne „Partys“, „Kultur“, „Amüsement“, | |
| Zusammenkünften aller Art. | |
| Doch nach einem dramatischen Verfall der Sieben-Tage-Inzidenz weit unter | |
| hundert, geht in Berlin der ganze ekelhafte Stress nun wieder los. | |
| Biergärten dürfen theoretisch schon am Donnerstagabend öffnen, Cafés und | |
| Museen am Freitag; die Schwimmbäder folgen, sobald sie altes Laub und | |
| Legionellen rausgepustet haben. Kulturveranstaltungen im Freien sind ab | |
| Mittwoch mit bis zu 250 Gästen erlaubt. | |
| 250 Leute! Da allein stellt sich doch schon die Frage: Wer möchte denn | |
| überhaupt noch so viele Menschen auf einmal sehen? Wir haben uns das nun so | |
| lange abgewöhnt, und zum Teil auch schätzen gelernt. Wenig Leute ist gleich | |
| wenig Geschrei, wenig Ärger und viel Ruhe: Eine Gleichung mit wenigen | |
| Unbekannten geht für mich persönlich immer auf. | |
| Sozial war ich im Lockdown so wenig gefordert wie seit Jahren nicht mehr, | |
| und ich habe es genossen. Denn der Starke ist am mächtigsten allein. Fremde | |
| Geräusche, Gerüche, Stimmen, Ansichten, kurz – fremde Menschen stressen | |
| mich nur. Tiere sind viel angenehmer. Ich hatte die Muße, dem Spiel der | |
| Ameisen auf meinem Schreibtisch zuzusehen, oder meine Micky-Maus-Sammlung | |
| noch mal in aller Ruhe gründlich durchzulesen. Es war eine wunderbare Zeit. | |
| Nun ist sie vorbei. | |
| ## Angst vor Menschen | |
| Jetzt geht der vermaledeite Amüsierzwang wieder los, dieser blinde | |
| Aktionismus aus „hast du schon“, „wollen wir nicht mal“ und „da müss… | |
| ja auch noch hin!“ Ich habe Ausstellungen schon immer gehasst. Konzerte | |
| sind mir längst zu laut, der Rücken tut mir weh, oft sind die anderen | |
| Besucher frech zu mir. Sowieso habe ich allgemein Angst vor Menschen. Die | |
| mögen mich alle nicht. Ich weiß, dass sie sich über meinen Tod nur freuen | |
| würden. So was muss ich nicht haben. | |
| Im Grunde ist die ganze Situation eins zu eins wie jene nach dem Zweiten | |
| Weltkrieg. Der fallende Inzidenzwert sind die Alliierten und ich bin in | |
| diesem famosen Vergleich der unverbesserliche Nazi, der sich nicht über | |
| seine Befreiung freuen kann, weil seine Welt, in der er es sich über die | |
| letzten fünfzehn Monate in all ihrer immanenten Lebensfeindlichkeit so | |
| prima eingerichtet hat, nun völlig auf den Kopf gestellt wird: Freiheit, | |
| Coca-Cola und laute Jazzmusik. Das ist wider meine faschistoide | |
| Gartenzwergnatur. Missgünstig und misanthropisch knirsche ich mit den | |
| Zähnen. Ich gönne den jungen Leuten ihre Freiheit nicht, die gewohnte | |
| Ordnung meines engen kleinen Kosmos ist verschwunden, meine Ruhe ist dahin. | |
| Und zwar wortwörtlich. Denn der Lockdown mit seinen geschlossenen Lokalen | |
| und Hostels sowie den ausgebliebenen Billigfliegern hat hier im Viertel für | |
| himmlische Ruhe gesorgt. Nachts konnten wir, was in diesem Bermudadreieck | |
| für rücksichtslose Feierbiester während der warmen Jahreszeit sonst | |
| überhaupt nicht geht, sogar das Schlafzimmerfenster auflassen. | |
| Die kleinen Arschgeigen aus aller Welt blieben fein zu Hause und | |
| langweilten sich und andere dort in ihren jeweiligen Ausgangssperren. | |
| ## Schlafen unter Zeltplanen | |
| Aus der kleinen Grünanlage neben dem Haus dringt zwar auch im Lockdown | |
| manchmal lautes Endzeitgebrüll, mal klagend, mal aggressiv und mal in Form | |
| von halb erstickten Hilfeschreien, doch das Gezeter erstirbt meist schnell, | |
| und die obdachlos gewordenen Künstlerinnen und Barbesitzer legen sich | |
| wieder ruhig zum Schlafen unter ihren improvisierten Zeltplanen aus | |
| Plastiktüten nieder, die sie dort zwischen den Bäumen aufgespannt haben. | |
| Für sie kommt jede Öffnung sowieso zu spät. | |
| Da hätte man das alles auch so lassen können. | |
| 18 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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