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# taz.de -- Langeweile im Lockdown: Ein deutsches Mädel weint nicht
> Das Rezept gegen die Ereignislosigkeit: Künstlich aufgebauschte Eckpunkte
> im Lockdownleben. Um sich daran durch die Ödnis zu hangeln.
Bild: Zerstreuungsprogramm als Hilfsmittel gegen die Tristesse des Lockdowns
Es ist schon deprimierend. Zwar gibt es immer was zu tun, aber es ist halt
auch immer dasselbe. Den Staubsauger in seiner Ecke scharf anzublicken. Die
CD-Sammlung nicht zu sortieren. Schläfchen auf dem Sofa zu halten. Kein
Brot zu backen. Einen Metatext darüber zu schreiben, was alles nicht
passiert. Auf dem einen Friedhof mit X spazieren zu gehen, auf dem anderen
Friedhof mit Y, Hauptgesprächsthemen: Nix los, nix zu tun und nix zu
wollen.
Es gibt Tage, da mich das alles zermürbt, obwohl es mir während der
Pandemie vergleichsweise gut geht. Eigentlich darf ich nicht jammern.
Andere sind alleinerziehend, Barbesitzer oder haben Granatsplitter im
Unterleib. Nur die haben die Lizenz zum Jammern. Die Jammerkapazitäten sind
nun mal beschränkt, und stimmungsmäßig mal ein bisschen durchzuhängen gilt
nicht als anerkannter Jammergrund. An dieser Stelle kommt in Deutschland
stets verlässlich der alte Nazi-Appell, man solle sich doch mal
„zusammenreißen“. Ein deutsches Mädel weint nicht.
Doch zum Glück habe ich ein Rezept gefunden, meine persönliche
„Exitstrategie“: Bewusst kreiere ich eine Reihe von Events, als künstlich
aufgebauschte Eckpunkte in meinem Lockdownleben, an denen entlang ich mich
durch die Ödnis hangle. So zum Beispiel die Nabu-Wahl des Vogels des
Jahres. Natürlich habe ich längst gewählt, die Blaumeise, die Königin der
Hecke bei den Mülltonnen, wen sonst. Doch bis zur Verkündung des amtlichen
Endergebnisses mache ich fleißig Stimmung gegen all die anderen Vögel.
Das ist eine Superbeschäftigungstherapie: Wutsmileys, die Konkurrenz
verächtlich machende Hetzkommentare, vor allem unter das Rotkehlchen, denn
irgendein Algorithmus spült mir den kleinen Cocksucker immer wieder in die
Timeline. Was soll das? Natürlich könnte man sich auch auf einen
ungeliebten Kandidaten einigen, um mit konzertierter Kraft die Wahl der
Stadttaube zu verhindern, so wie man in Frankreich Macron als kleineres
Übel gegen die Rechtsradikalen gewählt hat. Aber nicht mit mir. Was will
ich mit dem neoliberalen Rotkehlchen Macron? Blaumeise oder Untergang.
## Das kleine Arschloch in mir
Ein weiteres Element des Excitement-Programms sollte das angekündigte
Interview der abtrünnigen Royals Meghan und Harry bei der US-Talktante
Oprah Winfrey sein. Was die wohl erzählen würden? „Die Queen ist voll die
Pfeife, der Palast stinkt …“, huiuiui, in gehässiger Vorfreude rieb ich mir
die Hände. Ich bin zwar nicht der große Klatschonkel, aber tief in mir drin
wohnt eben doch ein kleines Arschloch, das mit Gossip gefüttert werden
möchte, kein schönes Bild, aber dafür immerhin schief.
Wochenlang fieberte ich der Nacht des Interviews entgegen. Ich wollte mir
sogar den Wecker stellen wie für so einen geboosteten Schwergewichtskampf –
in Zaire, früh um vier. Meghan und Harry gegen das Haus Windsor. Leider kam
das Ganze nicht auf Kika, sondern nur bei CBS, und das kriegte ich nicht
rein.
Also vereinbare ich als zusätzliches Zerstreuungsprogramm noch ein paar
Arztbesuche. So schlage ich auch zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich habe
nämlich das Gefühl, zunehmend aus dem Leim zu gehen, obwohl (oder
vielleicht auch weil?) ich zurzeit notgedrungen recht gesund lebe – wenig
Stress plus wenig Spaß macht wenig Alk und Nikotin.
Das Schlussfeuerwerk der gesammelten Arztbesuche soll eine echte
Darmverspiegelung bilden. Oder Darmspiegelung – ich glaube, so heißt das
korrekt. Das wird sicher sehr schön, zumindest jedoch unterhaltsam. Und das
ist es schließlich, worauf es mir in diesen Zeiten ankommt.
22 Mar 2021
## AUTOREN
Uli Hannemann
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