# taz.de -- Revival der Friedhöfe während Corona: Wo das Leben tobt | |
> Was vormals der Zirkusbesuch war, ist im Lockdown der | |
> Friedhofsspaziergang. Fröhliche Freiluftinfektionsgruppen tummeln sich | |
> zwischen Grabstätten. | |
Bild: Die lustigen Lebenden erobern ein Terrain zurück: den Friedhof | |
Es klingt paradox, aber die Friedhöfe erleben gerade ihr großes Revival. | |
Das hätte man den stillen Gottesackern gar nicht zugetraut. Lange Zeit | |
waren sie ja eher triste Orte. Unten lagen mausetote Menschen tief in der | |
Erde verbuddelt, während oben die Lebenden um die Wette heulten, und wenn | |
einer mal ’nen Witz machte, die Korken knallen ließ oder bloß laut furzte, | |
hieß es immer gleich „Pscht! Die Toten …“, als könnte man die noch | |
erschrecken oder nerven. | |
Die sogenannte Totenruhe ist ein weißer Schimmel, redundante Kackscheiße, | |
reine Schikane. Aber gut, der Tod war auf seine drollige Art ja schon seit | |
jeher so etwas wie der natürliche Gegenspieler des Lebens. Unter dem | |
Gesichtspunkt war das verkniffene Theater immerhin fast konsequent. | |
Doch wegen der Pandemie scheint sich da nun einiges zu ändern. Als wir uns | |
auf unserem Spaziergang dem ohnehin bereits zur Hälfte aufgelassenen | |
Friedhof am Prenzlauer Berg nähern, tobt dort sichtlich schon das Leben. | |
Von Weitem denke ich angesichts der quirligen, bunten Menge zwischen den | |
Grabstätten natürlich als erstes an Zombies – wie es schließlich jeder | |
normale Mensch bei einem solchen Anblick täte. | |
Doch es sind am Ende einfach nur fröhliche Freiluftinfektionsgruppen, die | |
sich hier tummeln. Die lustigen Lebenden lassen sich nicht weiter von den | |
toten trüben Tassen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Sie haben sich | |
das Terrain zurückerobert. Was vormals der Zirkusbesuch war, ist im | |
Lockdown [1][der Friedhofsspaziergang]. Auf den Bänken sitzen Leute, lesen, | |
trinken Coffee to go, telefonieren. Kleine Kinder auf Laufrädern und noch | |
kleinere in Kinderwagen werden durch das frische Leichengrün bewegt. | |
Lebenslust obsiegt | |
Die Vorfrühlingssonne strahlt, hie und da blitzt bereits keck die eine oder | |
andere Bierflasche aus lebensfroh geballten Fäustchen hervor. Der Tod ist | |
zwar nah, doch Corona ist weit. Die Lebenslust obsiegt. Scheiß auf den | |
Friedhof, sogar buchstäblich, denn da bewegt sich direkt vor meinen Augen | |
doch tatsächlich eine junge Frau aus dem Schutze einer Gruft zurück zu | |
ihrem Liebsten. Puh, das war knapp. | |
Verantwortliche, die an dem frohen Treiben Anstoß nehmen könnten, sind kaum | |
in Sicht. Und wenn dann doch mal so ein Bethansel sauertöpfisch | |
herumnörgelt, von wegen Rücksicht oder Pietät, kriegt der einfach eine aufs | |
Maul – mit der Sektpulle oder dem Kinderfahrrad, das kann er sich | |
aussuchen. Dann darf sich die Spaßbremse gleich zu ihren knochigen Kumpels | |
dazulegen: „Hier ruht der alte Miesepeter; die Cooleren ruhn hier erst | |
später.“ Irgendwo müssen die Kinder ja spielen. | |
Neulich war ich mit einem befreundeten Autor auch mal auf dem [2][Friedhof | |
an der Chausseestraße] – da, wo die ganzen Schriftsteller liegen. Und wohin | |
hat sie ihre Klugschwätzerei gebracht? In dichter Reihe liegen die | |
Berühmtheiten, Urne an Urne, Grab an Grab. Lunge, Leber, Lebensüberdruss. | |
Ich glaube, das wird mein neuer Lieblingsort. Es ist ein ungeheuer | |
befriedigendes Gefühl, sich gegen so viele Kollegen durchgesetzt zu haben, | |
wenn auch nicht qualitativ, so doch immerhin existenziell. Munter schreiten | |
wir durch die Reihen. „Ach hier, der …“ und „Hat der nicht …“ und �… | |
mal“ und „Kennste den?“ | |
Wir leben und sie sind tot – vielleicht ist es ja eben genau das, was die | |
Leute dieser Tage die Friedhöfe mit ihrer guten Laune überschwemmen lässt. | |
Gewiss, auch die Parks und Grünanlagen sind gut gefüllt, doch vom Feeling | |
her ist es dort längst nicht dasselbe, wie zwischen den Gräbern der | |
Verstorbenen zu tanzen, zu singen und zu swingen. | |
24 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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