# taz.de -- Psychologe über Langeweile: „Langeweile soll uns motivieren“ | |
> Der Psychologe Thomas Götz erklärt, warum Langeweile nie verschwinden | |
> wird. Und wie man das Beste aus ihr macht, nicht nur in Coronazeiten. | |
Bild: Wie mache ich da Beste aus der Langeweile im Lockdown? | |
taz: Herr Götz, langweilt es Sie manchmal, zu Langeweile zu forschen? | |
Thomas Götz: Ganz und gar nicht. Es ist ein absolut spannendes Thema. | |
Seit wann forscht man überhaupt dazu? | |
Den ersten wissenschaftlichen Artikel zu Langeweile in der Psychologie | |
ha[1][t Otto Fenichel] im Jahr 1934 veröffentlicht. Er war ein Wiener | |
Psychoanalytiker und Zeitgenosse von Sigmund Freud. Ansonsten hat man | |
Langeweile in der Psychologie ganz wenig untersucht. Erst seit etwa zwanzig | |
Jahren gibt es mehr Forschung dazu, in den letzten Jahren gab es sogar | |
einen regelrechten Boom. | |
Wie kommt das? | |
In der sogenannten positiven Psychologie der 90er Jahre wollte man sich | |
nicht mehr so sehr mit Krankheitsbildern beschäftigen, sondern eher das | |
Positive in den Menschen fördern. Inzwischen widmet man sich auch wieder | |
stärker den negativ konnotierten Konstrukten in der Psychologie. | |
Wir Menschen haben aber nicht erst seit 1934 Langeweile. | |
Man kann sehr stark vermuten, dass es Langeweile schon immer gab. Schriften | |
aus mittelalterlichen Klöstern zeigen, dass sich die Menschen schon damals | |
sehr gelangweilt haben. Sie bezeichneten das Gefühl als Mittagsdämon, der | |
über sie kommt. | |
Wie unangenehm. | |
Unterschiedliche Zeiten, Sprachen und Länder haben unterschiedliche | |
Begriffe für die Langeweile. In Frankreich hat das Wort für Langeweile, | |
„l’ennui“, auch ein bisschen etwas Kokettierendes, Charmantes, als würde | |
man über den Dingen stehen. Das deutsche „Langeweile“ oder englische | |
„boredom“ ist eher negativ konnotiert, man soll ja immer beschäftigt sein. | |
Es ist auch interessant, die Langeweile aus verschiedenen Disziplinen | |
heraus zu betrachten. Die Philosophie hat sich sehr viel mit den | |
existenziellen Facetten von ihr beschäftigt. Martin Heidegger bezeichnete | |
sie etwa als „Hingezwungensein an die ursprüngliche Ermöglichung des | |
Daseins als eines solchen“, Friedrich Nietzsche nannte sie „Windstille der | |
Seele“. Die Ökonomie sieht Langeweile eher vor dem Hintergrund einer | |
Vergeudung von „Humanressourcen“, ein Nicht-Ausschöpfen der individuellen | |
Möglichkeiten. | |
Was ist Langeweile eigentlich – ein Zustand? Ein Gefühl? | |
Darüber diskutieren Psychologinnen und Psychologen heute noch. Die | |
Interessensforscher sagen, dass sie das Gegenteil von Interesse ist. Wir | |
Emotionsforscher argumentieren dagegen. Wenn man kein Interesse an etwas | |
hat, heißt das noch lange nicht, dass man sich langweilt. Wir bezeichnen | |
die Langeweile stattdessen als eine Emotion. Aber eine mit einem ganz | |
einzigartigen Profil. | |
Was macht diese Emotion so besonders? | |
Sie ist die einzige Emotion, die schwächer wird, wenn die Wichtigkeit der | |
Situation ansteigt. Wenn jemandem in der Schule zum Beispiel Mathe wichtig | |
ist, wird er oder sie alle Emotionen in dem Fach intensiver erleben: Man | |
wird mehr Angst vor Prüfungen haben, man wird aber auch mehr Freude | |
verspüren. Die Psychologie nennt diese Wichtigkeit Valenz. Sie erhöht alle | |
Emotionen, außer die Langeweile. Die wird weniger, wenn uns die Dinge | |
wichtig sind. | |
Wann genau tritt sie stattdessen auf? | |
Sie tritt dann auf, wenn uns eine Situation, eine Tätigkeit oder andere | |
Menschen eigentlich unwichtig sind. Das ist die stärkste Ursache von | |
Langeweile. Dann gibt es noch die Langeweile aus Unterforderung, aber auch | |
aus Überforderung. Weil man letztlich abschaltet, nichts mehr versteht. | |
Warum braucht es sie in diesen Situationen? | |
Wir erleben Langeweile in der Regel negativ, aber sie ist ein Signal dafür, | |
dass uns das, was wir tun, im eigentlichen Kern nicht erfüllt. Das ist | |
wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum es Langeweile evolutionär | |
überhaupt gibt. Sie soll uns quasi aus für uns unwichtigen Situationen | |
herausreißen, uns motivieren, etwas anderes zu tun. | |
Wie funktioniert das? | |
Wenn man sich langweilt, sollte man sich überlegen, warum man sich | |
langweilt und das als Impuls nutzen, etwas zu ändern. Wenn man sich etwa in | |
einem Freundeskreis oder im Job ständig langweilt, sollte man sich fragen, | |
was man anders machen kann. | |
Okay, aber wie erkläre ich das einem Schulkind? | |
Es sollte kein Tabu sein, mit dem Kind über die Langeweile zu sprechen. | |
Dann kann man gemeinsam ergründen, wie sich die Langeweile anfühlt und | |
warum sie da ist. Wenn die Ursache klar ist, etwa Überforderung, kann man | |
sich Unterstützung holen. Wenn ein Sinn fehlt, warum das Kind einen | |
bestimmten Stoff lernen muss, kann man darüber sprechen, ob er nicht doch | |
irgendwie nützlich sein kann. | |
Und wenn das alles nicht aus der Langeweile heraushilft? | |
Pausen können hilfreich sein, sich zum Beispiel bewegen, einfach mal | |
durchlüften und Dinge tun, die wirklich Spaß machen. Kurz: Emotionen | |
erschaffen, die es der Langeweile schwermachen. | |
Kann Langeweile auch krank machen? | |
Langeweile wird dann krankhaft, wenn man sich ihr hingibt. Dann versinkt | |
man in ihr. Wenn man in einer Apathie hängt, ist es natürlich schwierig, | |
aus der Langeweile herauszukommen. Schließlich macht sie oft auch träge. | |
Man kann dann aber trotzdem versuchen, sich bewusst vorzunehmen zu | |
reflektieren. Vielleicht kann man die Situation im Kleinen verändern. Oft | |
hat Langeweile nämlich auch damit zu tun, ob man einen Sinn in seiner | |
Tätigkeit sieht oder nicht. | |
Menschen, die keine Langeweile haben, führen also ein sinnvolles Leben? | |
In der Psychologie spielt hier die Passung eine große Rolle. Man geht in | |
etwas auf, erlebt weder Unter- noch Überforderung. Beim sogenannten Flow | |
passiert genau so etwas, er ist damit fast das Gegenteil von Langeweile, | |
bei der die Passung eben nicht gegeben ist. Es kann aber auch sein, dass | |
die Menschen viel tun, um dieses Gefühl der Langeweile zu überspielen oder | |
durch ihr Beschäftigtsein gar nicht mehr fähig sind, sie überhaupt zu | |
erleben. | |
Liegt das auch an unserer Leistungsgesellschaft? | |
Genau. Wir lassen die Langeweile oft gar nicht mehr zu. Schon sobald erste | |
Anzeichen von Langeweile gespürt werden, ziehen wir stattdessen das | |
Smartphone aus der Tasche und lenken uns ab. So entgeht uns natürlich die | |
Chance, etwas aus der Langeweile zu lernen. Aber meistens ist es nun mal | |
einfacher, Dinge zu lassen, die man ungern tut, und sich dann vielleicht | |
wieder zu langweilen, als zu überlegen, was man eigentlich wirklich machen | |
oder verändern will. | |
Macht Langeweile womöglich kreativ? | |
Studien zeigen, dass die Langeweile aus Unterforderung kreativ machen kann. | |
Wenn man aus Überforderung gelangweilt ist, funktioniert das eher nicht. | |
Wir können das aber nicht so generell sagen. Kreativität ist ein weiter | |
Begriff. Langeweile führt meistens dazu, dass man aus ihr heraus etwas | |
anderes tut. Das kann etwas Positives sein, wie eine wunderschöne Skulptur | |
zu schaffen. Es kann aber auch etwas Kriminelles sein. Viele Menschen, die | |
etwas Kriminelles getan haben, sagen, dass sie ihre Taten aus Langeweile | |
begangen haben. | |
Langeweile ist also nicht gleich Langeweile. | |
In der Emotionsforschung gibt es jeweils einen Prototypen einer jeden | |
Emotion. Er beschreibt die häufigste Art, wie die Emotion erlebt wird. Für | |
Langeweile bedeutet das: In der Regel leicht negativ, man ist körperlich | |
nicht so sehr aktiviert. Um diesen Langeweile-Prototypen herum gibt es dann | |
verschiedene Schattierungen, sogenannte Typen. Es gibt nämlich auch | |
Situationen, in denen Langeweile durchaus positiv erlebt wird, weil sie | |
entspannt und zu etwas Neuem führt. | |
Erleben alle Menschen diese unterschiedlichen Langeweile-Typen oder hat | |
jeder Mensch eine bestimmte Tendenz? | |
In unseren Studien haben wir herausgefunden, dass Menschen alle | |
Langeweile-Typen erleben können und nur eine leichte Tendenz zu einer | |
bestimmten Form haben. | |
Warum haben so viele Langeweile im Lockdown? | |
Wir sind aus unserem Umfeld und unseren Tätigkeiten herausgerissen, die wir | |
uns im Laufe der Zeit angeeignet haben und als für uns passend empfinden. | |
Stattdessen sind wir mit neuen Situationen konfrontiert, wir sind | |
überfordert vom Homeoffice mit der ganzen Familie um uns herum. Dann | |
schalten wir mental manchmal einfach ab und es entsteht Langeweile im | |
Zusammenhang mit Ärger. Oder wir sind unterfordert, weil wir nicht wissen, | |
was wir konkret machen sollen. Zentral ist auch, dass die Valenz, also die | |
Wichtigkeit der Dinge und Tätigkeiten wegfällt, weil uns das, was wir zu | |
Hause machen, vielleicht nicht so sinnvoll erscheint. | |
Sollten wir das als Chance nutzen, uns mit der Langeweile | |
auseinanderzusetzen oder uns lieber ein neues Hobby suchen? | |
Beides. Man kann die Langeweile auf jeden Fall als Motivation nutzen, die | |
Dinge so zu verändern, dass sie dann vielleicht wieder für einen passen. | |
Und sich auf die Suche zu begeben, vielleicht nach neuen Hobbys oder | |
Tätigkeiten, die einen erfüllen. Vielleicht gestalten wir so dank der | |
Langeweile im Lockdown unser Leben positiver, im weitesten Sinne sogar | |
passender für uns. | |
Und dann stirbt die Langeweile einfach aus? | |
Ich glaube nicht, dass es irgendwann keine Langeweile mehr geben wird. | |
Menschen sind so individuell. Insbesondere in Gruppen kann es niemals eine | |
derartige Passung zwischen Umwelt und Individuen geben, sodass es keine | |
Langeweile mehr gäbe. Und das ist auch gut, so haben wir einen klaren | |
Anreiz, uns weiterzuentwickeln. | |
12 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Fenichel | |
## AUTOREN | |
Stella Schalamon | |
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