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# taz.de -- Psychologe über Emotionen: „Schon Babys zeigen Ärger“
> Angst, Wut, Ekel und andere Emotionen hatten einen evolutionären Nutzen –
> und steuern auch heute noch unser Handeln, sagt der Psychologe Arvid
> Kappas.
Bild: Die Gefühle haben Schweigepflicht? Von wegen!
taz: Herr Kappas, was fühlen Sie gerade?
Arvid Kappas: Das ist nicht so spezifisch. Eine Mischung aus Aufregung und
Vorfreude wegen dieses Interviews. Gäbe ich dem jetzt einen Namen, würde
sich das Gefühl verändern.
Was meinen Sie damit?
Es ist ganz selten, dass wir herumlaufen und sagen: „Jetzt bin ich aber
ärgerlich.“ In manchen Fällen kommt das Gefühl erst, wenn man versucht, es
zu benennen. Oder wenn andere fragen, warum man so ärgerlich sei.
Aber es gibt doch ganz eindeutige Gefühlszustände, oder?
Wir denken ganz naiv: „Wenn ich einem wilden Tier im Wald begegne, bekomme
ich Angst und laufe weg.“ Auf diese Weise machen wir uns einen Reim auf
unsere physiologische Erregung. Aber so einfach ist das nicht. Das habe ich
verstanden, als mir einmal die Kontrolle über mein Auto abhanden gekommen
ist. Erst als ich am Straßenrand stand, hat es mich erwischt. Da habe ich
die weichen Knie und das Herzklopfen wahrgenommen und das als Angst
interpretiert. So hat das schon William James im 19. Jahrhundert gesehen –
erst handeln wir, dann fühlen wir.
Manche Emotionsforscher:innen definieren eine bestimmte Anzahl von
Grundgefühlen – Angst ist immer dabei. Wie sehen Sie das?
Ich lasse mich da nicht darauf ein, weil Emotionen, physiologisch
betrachtet, keine so spezifischen Muster haben.
Nicht?
Wir haben solche Ideen, dass unser Herz ganz doll schlägt, wenn wir
aufgeregt sind oder uns fürchten. Aber das stimmt so nicht. Für Studien im
Labor wurden Leuten Filme gezeigt, die Emotionen hervorrufen – und sie
wurden anschließend gefragt, was in ihrem Körper passiert. Ihre Wahrnehmung
stimmte nicht mit den objektiv messbaren Daten überein. Zum anderen kam
dabei heraus, dass sich die Emotionen gar nicht so deutlich voneinander
unterscheiden.
Mein Körper [1][macht bei Trauer] also dasselbe wie bei Wut?
Nein, das nicht. Es gibt aktive und ruhige Zustände. Aber innerhalb dieser
Zustände sind die Unterschiede nicht besonders groß.
Ist es möglich, dass wir einfach keine geeigneten Instrumente haben, um
Gefühle und ihren Variantenreichtum zu messen?
Das können wir nicht ausschließen. Viele Gefühlsforscher:innen
betrachten ja nicht einfach nur die physiologischen Reaktionen wie Puls,
Temperatur, hormonelle Verschiebungen und Muskelanspannungen, sondern auch
den Ausdruck im Gesicht und die Selbstwahrnehmung, also das, was ihnen die
Leute erzählen. Und wir sind heute weiter als der sehr bekannte Forscher
Paul Ekman, der gesagt hatte, Emotionen seien wie Programme, die immer
gleich ablaufen, wenn sie angestoßen werden.
Wir sprechen abwechselnd von Emotionen und Gefühlen. Gibt es einen
Unterschied?
Nein. In der Gefühlsforschung setzt sich gerade durch, von „affective
processes“ zu sprechen, also von affektiven Vorgängen. Das ist im Deutschen
verwirrend, weil wir unter „Affekt“ eine sehr intensive, vielleicht sogar
plötzliche Emotion verstehen.
Was ist im Englischen gemeint?
Das umfasst beispielsweise auch Stimmungen …
… oh je, was meinen diese nun wieder?
Sie unterscheiden sich von Emotionen insofern, dass sie sich nicht auf ein
Objekt beziehen.
Das müssen Sie erklären.
Forscher:innen sagen, Emotionen seien Prozesse, die sich auf etwas
beziehen. Du bist wütend auf jemanden, du hast Angst vor etwas, du freust
dich über etwas.
Und wenn ich mit einem diffusen Grundgefühl aufwache …
… ist das eine Stimmung.
Und was genau ist ein Gefühl beziehungsweise eine Emotion?
Das ist so etwas wie Durst. Der fühlt sich so an, dass ich denke: „Ich muss
jetzt etwas trinken!“ Und bei Ärger gibt es etwas, das mir nicht passt,
vielleicht möchte ich sogar jemandem eine runterhauen. Dabei sind Gefühle
eine subjektive Geschichte: Wenn zum Beispiel auf einem Tisch vor mir ein
Objekt mit sechs oder acht Beinen in meine Richtung krabbelt, dann fühle
ich etwas, weil ich diese Krabbeltierchen nicht mag.
Jemand anderes würde nichts empfinden.
Genau. So wie jemand, der gerade Diät macht, beim Anblick einer leckeren
Torte ein anderes Gefühl hat als jemand, der keine Diät macht. Oder dass
nicht alle dieselben Sachen lustig finden. Jetzt muss man noch das Gefühl
von seinem Ausdruck unterscheiden.
Auch das noch …
Das Gefühl ist eine innere Wahrnehmung. Der [2][Ausdruck ist das, was Sie
gerade machen]. Sie ziehen die Augenbrauen zusammen, weil Sie nicht so
überzeugt sind, dass das Sinn ergibt, was ich Ihnen erzähle.
Und diese Ausdrücke sind offenbar auch komplexer als wir denken. Sie gehen
in Ihren Aufsätzen oft darauf ein, dass ein Lächeln nicht unbedingt Freude
ausdrücken muss und umgekehrt Freude nicht immer ein Lächeln nach sich
zieht.
Ja, tatsächlich zeigen wir Gefühle gar nicht so oft. Es ist ja auch
günstig, mich kontrollieren zu können und meinen Gefühlen nicht
ausgeliefert zu sein. Das wäre sehr hinderlich im Alltag.
Aber es gibt doch einen unmittelbaren Ausdruck von Schmerz!
Kennen Sie diesen Gesichtsausdruck bei Kindern, wenn sie hingefallen sind
und sie entscheiden, ob sie losweinen oder nicht, je nachdem, ob ein
Elternteil in der Nähe ist und wie sich das verhält?
Ja, sehr gut.
Sehen Sie.
Umgekehrt ist es doch auch möglich, mit dem Ausdruck das Gefühl zu
beeinflussen, oder? Also lächeln, um sich besser zu fühlen.
Das ist wissenschaftlich nicht ganz geklärt. Es gibt die
Facial-Feedback-Hypothese, nach der der Gesichtsausdruck das Gefühl
bestimmt. Aber wir wissen auch, dass wir auf unseren Gefühlen nicht wie auf
einer Klaviatur spielen können, indem wir unsere Gesichter entsprechend
bewegen. Sie kennen es vielleicht, wenn Sie in einem Meeting krampfhaft
versuchen, nicht in hysterisches Lachen auszubrechen. Oder Sie versuchen,
nicht zu weinen. Da reicht oft eine Kleinigkeit und Sie haben es nicht mehr
im Griff.
Welchen evolutionären Vorteil haben Gefühle eigentlich?
In dem Moment, in dem sich ein Organismus vorwärts bewegen kann, kann und
muss er Nahrung besorgen. Das Problem ist, dass ich selbst auch zur Nahrung
werden kann. Oder in einen Fluss falle, wenn ich nicht aufpasse. Wenn ich
gelernt habe, bestimmte Situationen damit zu verbinden, dass sie für mich
gefährlich sein könnten, ich mich also ängstige und vorsichtig bin, ist das
schon die halbe Miete.
Aber manche Großstadtmenschen haben panische Angst vor Schlangen, ohne je
ein schlechtes Erlebnis gehabt zu haben.
Ob es angeborene Ängste gibt, ist nicht abschließend geklärt. Es gibt ein
Experiment mit Schimpansen, wo ein Schimpanse Angst vor Schlangen
entwickelt, wenn er zuvor erlebt hat, dass andere Schimpansen Angstsymptome
zeigen. Von Babys kennen wir das auch, dass sie beobachten, wie enge
Bezugspersonen auf ein Ereignis reagieren und sich dann entsprechend
verhalten. Andererseits scheint es etwas wie ein Vorbereitetsein auf
potenzielle Gefahrensituationen zu geben. Ich habe ein Experiment gesehen,
wo man Hühnern die Silhouette von einem Habicht gezeigt hat. Die hatten
vorher noch nie einen gesehen. Wenn man nun diese Silhouette rückwärts über
deren Köpfe bewegte, passierte nichts. Aber wenn die Silhouette in der
richtigen Richtung fliegt, wirkten sie so, als hätten sie Angst.
Jetzt ging es mal wieder um das, was Sie „das Lieblingsgefühl der
Forscher:innen“ nennen, die Angst. Wozu dient Wut?
Die meisten meiner Kolleg:innen würden sagen, Ärger oder Wut passiert,
wenn etwas dich stoppt in deinen Plänen oder behindert und du denkst, dass
das noch geregelt werden kann.
Anders als Verzweiflung, wenn nichts mehr geht?
Genau. Wenn zwei Tiere aufeinandertreffen, und es geht um Territorien oder
um Ressourcen wie Nahrung oder Sexualpartner, dann hilft ihnen Wut. Dann
machen die sich groß, um etwas zu bekommen oder zu behalten. Meistens
übrigens ohne anzugreifen. Schon Babys fangen an, erste Zeichen von Ärger
zu zeigen, wenn man ihre Arme festhält.
Aber wir sind ja eben keine wilden Tiere und müssen eigentlich vor kaum
etwas Angst haben oder wütend werden, um Nahrung oder einen Sexualpartner
zu erobern.
Das stimmt, wobei einige Gefühle immer noch von großem Nutzen sind wie
Ekel, der verhindert, dass wir uns den Magen verderben. Und unsere Gehirne
haben sich durch die letzten paar Tausend Jahre Zivilisation kaum
verändert. Die Evolution tickt da in anderen Zeitabständen. Manches macht
vielleicht heute wenig Sinn – aber vor 50.000 Jahren schon.
Dann sind Gefühle einfach ein Überbleibsel der Steinzeit?
Nein. Wahrscheinlich ist eine der Funktionen von Gefühlen, dass sie Handeln
leiten oder auslösen: Geh dort entlang! Lass von diesem die Finger! Das
will ich haben! Das Problem ist, dass uns diese Gefühle anfällig machen und
ausgenutzt werden können. Von der Werbung, aber auch von anderen Menschen.
Wir erleben derzeit, wie Leute mit ausreichend Charisma in der Lage sind,
Menschen wie Rattenfänger mitzunehmen. Die haben ein Verständnis dafür, wie
sie auf den Leuten spielen können. Wenn Politik so emotionalisiert ist,
dann fürchte ich, geraten Gesellschaften aus der Kontrolle.
Sie haben im Juni im Magazin Nature [3][einen Aufsatz mit 63 anderen
internationalen Emotionsforscher:innen veröffentlicht], in dem Sie
das Zeitalter des Affektivismus ausrufen. Darin heißt es, dass so viel Geld
wie nie in die Emotionsforschung fließt. Liegt das daran, dass Unternehmen,
die in künstliche Intelligenz investieren, ein hohes Interesse daran haben,
Gefühle dafür nutzbar machen zu können?
Da mag es einen Zusammenhang geben. Wenn für uns Menschen Emotionen
nützlich sind, um das Tagtägliche zu navigieren, [4][dann wäre es für
künstliche Sachen auch nützlich]. Zum Beispiel sind Schachcomputer nur dann
überragend, wenn sie auch mit „Intuition“ arbeiten.
Ach.
Ja, weil es so viele Zug-Kombinationen gibt, das kann kein Computer
durchrechnen.
Aber Gefühle scheinen auch unabhängig von künstlicher Intelligenz wichtiger
geworden zu sein.
Das stimmt. Unternehmen haben entdeckt, dass ihre Mitarbeiter:innen
produktiver sind, wenn es ihnen gut geht, sie also mehr Geld verdienen
können, wenn sie sich um Gefühle kümmern. Der Hintergrund ist
wahrscheinlich ein verändertes Rollenverständnis von Männern. Und wir
verstehen einfach, dass es kaum einen Bereich gibt, bei dem Emotionen keine
Rolle spielen. Vernunft und Logik klingen interessant, erklären aber kaum
was wir tun, was wir wollen und was uns beschäftigt.
25 Oct 2021
## LINKS
[1] /Trauerbegleiterin-ueber-Abschiede/!5759851
[2] /Emotionen-lesen-in-Zeiten-von-Corona/!5741010
[3] https://www.nature.com/articles/s41562-021-01130-8?proof=t
[4] https://www.researchgate.net/publication/338820464_Communicating_with_Robot…
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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