# taz.de -- Emotionen lesen in Zeiten von Corona: Wenn man sich bedeckt hält | |
> Meist können wir ganz gut die Gefühle unseres Gegenüber einschätzen. Aber | |
> wie funktioniert das? Und was, wenn jemand eine Maske trägt? | |
Bild: Ist diese Dame frohen Mutes? | |
Die Augen sind ein Spiegel der Seele – so heißt es zumindest in einem | |
Shakespeare zugeschriebenen Zitat. Und ein bisschen stimmt das sogar: Wir | |
schauen jemanden an und unser Gehirn lässt uns wissen, dass das trotzig, | |
stolze Lächeln des Partners bedeutet, dass die Waschmaschine sich eben doch | |
mit Klebeband reparieren lässt. Und ein leichtes Stirnrunzeln des Chefs | |
signalisiert uns, dass die Kaffeetasse noch nicht leer genug war, um nach | |
einem verlängerten Wochenende zu fragen. Was aber tun, wenn die Hälfte des | |
Gesichts plötzlich mit einer Maske bedeckt ist? | |
## Spieglein, Spieglein | |
Tatsächlich ist es gar nicht so, dass wir am Ausdruck unseres Gegenübers | |
unmittelbar seine Stimmung erkennen können. Unser Gehirn verfügt über keine | |
Datenbank, die Augenrollen und leicht verzogene Mundwinkel automatisch dem | |
passenden Gefühl – in diesem Fall: Spott – zuordnet. Was wir stattdessen | |
beherrschen ist Nachahmung: Unser eigenes Gesicht imitiert den Ausdruck des | |
Gegenübers. Dieses „Spiegeln“ geschieht unbewusst, innerhalb von | |
Millisekunden. Dieses Spiegeln ist nicht zwingend sichtbar, die Aktivität | |
der Gesichtsmuskeln lässt sich aber durch auf der Haut befestigte | |
Elektroden messen. | |
Im zweiten Schritt ordnen wir dem gespiegelten Ausdruck Assoziationen zu, | |
also Gefühle, die wir mit ihm verbinden. Oder, um es mit den Worten der | |
Neurowissenschaftlerin Franca Parianen zu sagen: Unser Gehirn fragt „Wie | |
fühle ich mich, wenn ich selbst so gucke?“ So sind wir innerhalb eines | |
Wimpernschlages in der Lage zu verstehen, was unser Gegenüber fühlt. Im | |
besten Fall. Denn wenn unsere Gesichtsmuskeln durch Botox gelähmt sind oder | |
gerade anderweitig beschäftigt, mit Frühstück oder Kaugummi kauen zum | |
Beispiel, brauchen wir länger, um die Mimik zu interpretieren. | |
Masken erschweren uns das „Emotionslesen“ ebenfalls, da sie dafür sorgen, | |
dass uns wichtige Informationen fehlen. Eine [1][Studie] der | |
Otto-Friedrich-Universität Bamberg aus dem Mai 2020 deutet darauf hin, dass | |
es beim Betrachten durch Masken verdeckter Porträts zu charakteristischen | |
Verwechslungen einzelner Emotionen kommt. Ein angewiderter Gesichtsausdruck | |
wird als wütend missverstanden, Glück, Trauer und Wut als neutral. | |
Erfreulicherweise sind wir im Bus oder Supermarkt nicht wirklich drauf | |
angewiesen, die Gefühle aller anderen richtig zu deuten. | |
Unser Gehirn versucht es trotzdem, auch wenn es sich dabei unterschiedlich | |
große Mühe gibt: Umso mehr, je intensiver die Beziehung (oder der Wunsch | |
danach) zum Gegenüber ist. Wenn wir gemocht werden wollen, spiegeln wir | |
stärker, im Gespräch mit jemand, der uns unsympathisch ist, hören wir damit | |
auf. Das ist eine wissenschaftliche Erklärung dafür, dass wir die Gefühle | |
von Menschen, die wir nicht mögen, schlechter nachvollziehen können. Auch | |
dafür, warum Pärchen sich irgendwann ähnlich sehen. Und da unsere | |
Fähigkeit, Gefühle zu „lesen“, mit der zur Imitation der Mimik unseres | |
Gegenübers zusammenhängt, lässt sie sich sogar künstlich verbessern. | |
Neurowissenschaftlern gelang dies mit Hilfe eines Gels, das Signale der | |
darunterliegenden Muskelzellen verstärkt. Umgekehrt kann sich dieses | |
Verständnis auch verschlechtern, etwa durch einen Schlaganfall. | |
## Der Kontext, der Kontext | |
Aber selbst unter den besten Umständen sind wir weit davon entfernt, Mimik | |
fehlerfrei zu interpretieren. Der Kontext spielt eine große Rolle, | |
ähnlichen Gesichtsausdrücke wie Ekel und Ärger schreiben wir je nach | |
Situation unterschiedliche Emotionen zu. Im Gespräch spiegeln wir auch | |
Körperhaltung und Gesten, achten auf die Stimme. Eine Studie des | |
Sozialpsychologen Michael Kraus von der Yale-Universität spricht sogar | |
dafür, dass wir Emotionen genauer erfassen, wenn wir unseren | |
Gesprächspartner nur hören, etwa am Telefon. Allgemeingültig ist das aber | |
nicht. „Unsere Erkenntnisse beziehen sich auf Kommunikation zwischen | |
Fremden, die in einem wenig konsequenten Kennenlern-Austausch | |
interagieren“, sagt Kraus. | |
Trotzdem ist der zugrundeliegende Prozess interessant: Unsere verbesserte | |
Einschätzung verdankt sich dem Umstand, dass die Aufmerksamkeit für die | |
Feinheiten von Stimmklang, Ton und Modulation steigt. Wir überkompensieren | |
also sehr erfolgreich – ob das auch für Gespräche mit Maske gilt, ist | |
allerdings bisher unerforscht. „Ich würde aber vermuten, dass Masken uns | |
zwingen, aufmerksamer darauf zu achten, was und wie jemand etwas sagt“, so | |
Kraus. | |
Einer der entscheidenden Faktoren dafür, wie gut wir unsere Mitmenschen | |
verstehen, ist schlichtweg unsere Motivation – wollen wir wirklich wissen, | |
wie es jemandem geht oder nur möglichst schnell an ihm vorbei zur | |
Kuchentheke? Zudem sind wir keine neutralen Bobachter: „Unsere Einstellung, | |
die Vorteile, die Vorstellungen, die wir über die Emotionen anderer Leute | |
haben beeinflussen auch, was wir sehen“, erklärt die Psychologin Ursula | |
Hess am Telefon. Schon die Art der Gesichtsbedeckung spiele eine Rolle, | |
denn eine Maske sei nicht nur eine Lücke in der Wahrnehmung, sondern mit | |
eigenen Assoziationen behaftet. | |
Hess ist Expertin für die Kommunikation von Emotionen und war schon 2012 an | |
einer Studie beteiligt, bei der Probanden Gefühlsausdrücke auf Gesichtern | |
bewerten sollten, die teilweise verdeckt waren. Die Art der Verdeckung | |
variierte dabei, auf einigen Bildern war es ein Niqab, dann wieder Schal | |
und Mütze oder eine chirurgische Maske. „Der Witz war, dass es immer | |
haargenau die gleichen Gesichter waren, die Abdeckung wurde nur darauf | |
geklebt. Der Gesichtsausschnitt, der frei war, war auch immer identisch“, | |
so die Psychologin. Trotzdem wurden Gefühle bei einer Person, die einen | |
Niqab oder einen Schal trug stärker wahrgenommen als bei Trägern von | |
chirurgischen Masken. „Besonders interessant war, dass es zum Teil von der | |
Emotion abhing. Trauer wurde besonders intensiv wahrgenommen, wenn die | |
Person einen Niqab trug.“ | |
Andere Studien bestätigen, dass westliche Probanden negative Gefühle eher | |
bei verschleierten Gesichtern wahrnehmen. Laut Hess können unterschiedliche | |
Faktoren und Hindernisse zusammenspielen. Wenn ein Signal durch die Maske | |
weniger klar kommuniziert wird, ist es leichter beeinflussbar durch | |
Vorurteile und andere Faktoren. Anderseits beachten wir vielleicht Signale, | |
die uns sonst entgehen. Eben weil die Kommunikation von Gefühlen komplex | |
ist, bedeuteten Masken kein Aus für unser Verständnis für die Gefühle | |
unserer Mitmenschen – die Sichtbarkeit der Mimik ist nur einer von vielen | |
Faktoren. | |
## Achtung ansteckend! | |
Wenn es uns gelingt, unser Gegenüber zu interpretieren, bekommen wir | |
Aufschluss über seine Emotionen. Und wir bekommen selbst eine kleine | |
Portion davon ab, denn Gefühle sind ansteckend. Bei dem Verknüpfen der | |
imitierten Mimik mit dem passenden Gefühl sind die gleichen Gehirnareale | |
aktiv, die auch für unsere eigenen Emotionen zuständig sind. Der | |
Zusammenhang zwischen Gesichtsausdruck und Stimmung besteht nicht nur beim | |
Spiegeln. | |
Dass Lächeln unsere Laune verbessert, weiß inzwischen fast jeder. Die | |
sogenannte Facial-Feedback-Hypothesis wurde getestet, indem Forscher | |
Probanden Comics bewerten ließen. Ein Teil hatte dabei einen Bleistift | |
zwischen den Zähnen, was die Muskeln aktiviert, die wir beim Lächeln | |
benutzen. Andere hielten ihn zwischen den Lippen, was Lächeln unmöglich | |
macht. Die Zähne-Gruppe war viel amüsierter. Egal also ob wir nachahmen, | |
selbst lächeln oder uns einen Bleistift zwischen die Zähne klemmen, zu | |
einem gewissen Grad kommt im Gehirn an: Lächeln gleich gute Laune. | |
Dennoch ist mitgefühlt nicht gleich Mitgefühl. Dafür braucht es weitere | |
Prozesse im Gehirn, unter anderem in Arealen, die dafür sorgen, dass wir | |
uns als eigenständige Person wahrnehmen. Würden wir die empfangenen | |
Emotionen vollständig übernehmen, würden wir uns in Anwesenheit von | |
Menschen mit Angst vor Spinnen selbst in nervös zitternde Arachnophobiker | |
verwandeln. | |
Zu erkennen, dass es nicht unsere eigenen Emotionen sind, die wir gerade | |
wahrnehmen, heißt übrigens nicht, dass das Gefühl automatisch weniger | |
intensiv empfunden wird. Mitgefühl ist es allerdings erst, wenn wir Gefühle | |
teilen, von denen wir wissen dass es nicht unsere sind. Und sie uns | |
trotzdem kümmern. | |
10 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://psyarxiv.com/sd5mj/ | |
## AUTOREN | |
Elin Disse | |
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