# taz.de -- Gesichter in der Coronapandemie: Mehr Maske zeigen | |
> In der Pandemie verlieren wir unser Gesicht zum Schutz anderer. Ist das | |
> schlimm? Oder ist ein bisschen weniger Gesicht auch eine Chance? Ein | |
> Essay. | |
Bild: Jesus, berühmtester aller Märtyrer, verkörpert quasi das Urgesicht | |
„Was willst du mit der Maske, du Idiot?“, rufen zwei Typen draußen vor dem | |
Supermarkt. Ich gehe weiter und nehme es nicht persönlich. Für sie scheint | |
Zynismus ein wirksames Medikament zu sein gegen eine Welt, die nur noch | |
überfordert. Außerdem meinen sie sicher nicht mich, sondern sind gegen die | |
einfache Idee: auch ohne genügend Belege zur verringerten Ansteckungsgefahr | |
durch Masken im Zweifel [1][für die Schwächeren zu handeln]. | |
Ich glaube jedoch, dass hinter ihrem falsch verstandenen zivilen Ungehorsam | |
mehr steckt. Dass es ihnen weniger um den Verlust der Freiheit geht als um | |
den Verlust des Gesichts. Doch was ist eigentlich ein Gesicht? | |
Das Gesicht ist vieles. Im Alltag steht es für das, woraus Menschen ihr | |
mehr oder weniger eigenes Selbst zusammenbasteln. Es ist eine | |
Nutzeroberfläche, oder Medium, es vermittelt das öffentliche Selbstbild, | |
das jede Person für sich in Anspruch nimmt – das „Image“. | |
Das Gesicht ist wie der Kapitalismus oder der deutsche Wald. Es wird für | |
natürlich gehalten, ist aber gemacht und geht einem komplexen Prozess | |
voraus. Die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari nennen ihn | |
„Vergesichtlichung“. Dieser Prozess, sagen sie, habe mit dem berühmten | |
Märtyrer begonnen, der bis heute an vielen Orten dieser Welt gesenkten | |
Hauptes über Türen abhängt: Jesus. Durch Jesus mit seinem allgegenwärtigen | |
Antlitz in Gemälden, Büchern und Kreuzen sei das Subjekt, also der | |
menschliche Prototyp, stetig mit dem weißen männlichen Gesicht verknüpft | |
worden. | |
## Gesichter folgen Logik des Genres | |
Mit der Porträtmalerei in der Renaissance wurde dieses Urgesicht | |
schließlich zum Verkaufsschlager. Und in der zur selben Zeit beginnenden | |
Ära des europäischen Kolonialismus zum Symbol einer imperialen | |
Gleichmachung, kulturell wie territorial. | |
Mit dem erfolgreichen [2][Export in die kolonisierten Länder] hat sich | |
nicht nur das weiße Gesicht, sondern auch dessen binäre Politik verbreitet. | |
Alle, die jenem Urgesicht nicht entsprachen, Nichtweiße, Kinder und Frauen, | |
wurden als Abweichung markiert. Abweichungen, die im 19. Jahrhundert | |
pseudowissenschaftlich begründet und systematisiert wurden. So meinte etwa | |
der Naturforscher Francis Galton, Grundsteinleger der Eugenik, 1869 in | |
seinem Buch „Hereditary Genius“ bei dem Vergleich verschiedener Gesichter | |
herausgefunden zu haben, dass die „durchschnittlichen intellektuellen | |
Fähigkeiten“ nichtweißer Menschen „in etwa zwei Stufen unter den unsrigen… | |
lägen. | |
Solche menschenfeindlichen Gespinste sind im gesellschaftlichen Unbewussten | |
gespeichert und prägen bis heute die standardisierte Wahrnehmung von | |
Gesichtern. Sie sind eng mit der Geschichte des Rassismus verbunden – und | |
haben Menschen zu Objekten gemacht. Gesichter folgen der Logik von Genres: | |
Sie sind derart genormt, dass ihre Träger bereits kurz nach der Geburt | |
unbewusst in existierende Gesichtsgenres eingeordnet werden. | |
Das beiläufige „du siehst aus wie“ oder „du erinnerst mich an jemanden�… | |
Alltag ist Ausdruck einer mehr oder weniger unbewussten Kategorisierung von | |
Typen, die alle Menschen vornehmen – und die auch medial forciert werden: | |
Seit dem Kalten Krieg haben Bösewichte in US-Serien und Hollywoodfilmen | |
(von „Black Hawk Down“ bis „Homeland“ ), aber auch in deutschen | |
Vorabendserien, oft nichtweiße Gesichter. So werden bestimmte ethnische | |
Stereotypen mit negativen Konnotationen verknüpft. | |
## Markierung von Abweichungen | |
Seit der Entstehung des Urgesichts sind noch weitere, wenn auch eher | |
ästhetische Systeme entstanden, die vorschreiben, wie ideale Gesichter | |
aussehen sollen, etwa die heteronormativen Weiblichkeits- oder | |
[3][Männlichkeitstypen] in der Werbung und Popkultur. Auch sie markieren | |
Abweichungen vom Mainstream, nichtnormative Sexualitäten, queere und | |
LGBTQ+-Lebensstile oder religiöse Verschleierung als marginal – oder | |
exotisch. | |
Gesichter stehen diesen Denkmustern zufolge gerade nicht für | |
Individualität, sondern für eine Art Stilelement, das einem Genre | |
eingeordnet wird, indem sie innerhalb weniger Sekunden die sexuelle | |
Orientierung, Ethnie oder Klasse preisgeben sollen. | |
Die jahrhundertealte Praxis des Objektifizierens findet heute in der | |
Gesichtserkennung ihre industrielle Perfektion – Gesichter sind profitable | |
Devisen. Es ist kein Zufall, dass ein Unternehmen, das digitale Räume als | |
„Öffentlichkeit“ verkauft, „face“ im Namen trägt: Algorithmen lieben | |
Gesichter – und wer stets vorne im Feed mitspielen möchte, sollte möglichst | |
viele Selfies seines Gesichts posten, das mit der Digitalisierung sozusagen | |
ein Upgrade bekam: Als überindividuelles, dicht vernetztes, dynamisches | |
Ding verbreitet es sich in jeder Sekunde als Werbefläche zur Schaffung | |
neuer Daten. | |
Auch der vertrauenerweckende Effekt von Gesichtern ist lukrativ: So macht | |
sich das Industriedesign seit jeher gerne die sogenannte Fusiform Face Area | |
zunutze, also die menschliche Gesichtserkennung, indem es die Fronten von | |
Autos wie Gesichter formt – und sie so zu vertrauten Objekten macht, die | |
man einfach lieb haben muss, oder vor denen man, wie bei den aktuell eher | |
[4][dämonisch geformten SUV-Fronten], Angst bekommt – je nach Vorliebe. | |
## Was bedeutet der Verlust des Gesichts? | |
Wenn Gesichtern basale Merkmale abhanden kommen, werden sie unvertraut – | |
und lösen im schlimmsten Fall Furcht aus. Doch wovor? Vielleicht vor | |
Kriminellen oder Leuten wie die von schlechten Drogen gezeichneten, aber | |
oft liebenswerten Menschen, die vor meiner Haustür in Neukölln campen. | |
Vielleicht aber auch vor dem Verlust des Gesichts – und damit der Macht. | |
Etwa die Macht der Sichtbarkeit des dominanten Genres „weiß und männlich“. | |
Womöglich ist es diese Macht, nicht die zum substanzlosen Kampfbegriff | |
heruntergerockte „Freiheit“, für welche die Männer vor dem Supermarkt und | |
ihre Querdenker-Kolleg*innen so vehement eintreten. Doch was ist eine echte | |
Maske eigentlich gegen ein Gesicht, das selbst eine Maske ist? Nicht nur in | |
der dominanten Form des weißen männlichen „Urgesichts“, sondern auch als | |
„Charaktermaske“, der sich Karl Marx zufolge Menschen als Träger*innen | |
gesellschaftlicher Funktionen unterwerfen müssen? | |
Wäre der Verlust eines solchen Gesichts so schlimm? Könnte die Verhüllung | |
des Gesichts nicht gerade das Gegenteil der Entmenschlichung bewirken, die | |
es hervorgebracht hat? Eine neue Vermenschlichung durch die Verweigerung | |
des Sichtbarkeitsregimes? Keine Frage, Masken verletzen den hart | |
erarbeiteten Stolz des Selbstausdrucks. Sie sind gleichmacherisch, weil sie | |
markante Gesichtsbereiche verdecken. Sie verlangen dem Ego eine Demut ab, | |
die es als Individuum, das sich im digitalen wie im physischen Leben stets | |
von der besten Seite zeigen will, längst verlernt hat. | |
Was also ist eine Person ohne Gesicht? Die kurze Antwort: ein Wesen unter | |
vielen. Die komplexe: ein Wesen, dessen Gesicht selbst eine Maske ist, die | |
ihr Macht, Status oder Anerkennung verleiht – oder Ohnmacht auferlegt. Ein | |
Wesen, das Teil einer Gemeinschaft ist, die, wie sich in der Pandemie in | |
Echtzeit zeigt, auf eine fatale Trennung zwischen Ich und den anderen, | |
zwischen Natur und künstlicher Umwelt setzte. | |
## Neues Symbol im Anthropozän | |
So schwierig es auch sein mag, beim täglichen Aufsetzen nicht wieder | |
„Scheißmaske“ zu denken oder [5][erwartbare Beschimpfungen zu ignorieren], | |
weil utopisches Potenzial ausfindig zu machen von den Hüter*innen des | |
Realismus gerne als weltfremd abgetan wird: Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, | |
die Verdeckung des Gesichts durch Masken als Symbol der Demut umzucodieren, | |
die auch über die temporäre Pandemie hinausgeht: als Symbol für ein neues, | |
der gesamten Erde weniger feindlich gesinntes Wesen [6][im Anthropozän]. | |
Das gegenseitige Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten andeutet, ohne in | |
quasirassistische Farbenblindheit zu verfallen, die behauptet, alle | |
Menschen seien gleich. Das der Menschheit vor Augen hält, wie destruktiv es | |
ist, die heteronormative Mehrheit als Mitte eines Wertesystems zu | |
verstehen, dessen scheinbare Allgemeingültigkeit unterdrückt, statt zu | |
befreien. | |
Ein bisschen weniger Gesicht ist die Chance auf eine Gesellschaft, die sich | |
neu entdeckt, indem sie ihre Verletzlichkeit nicht versteckt. | |
11 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Masken-in-Zeiten-von-Corona/!5694879 | |
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[5] /Politischer-Diskurs-ums-Benehmen/!5702496 | |
[6] /Wir-retten-die-Welt/!5667740 | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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