Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kunst in Zeiten von Social Distancing: Wenn Roboter von der Liebe s…
> Wie verhandeln neue Medien Gefühl und Sinnlichkeit? Wie rassistisch ist
> die KI? Zwei Ausstellungen in Amsterdam und Basel geben Auskunft.
Bild: Lucy McCraes „Solitary Survival Raft“ ist derzeit in Basel zu sehen
Die ersten Schritte in die Ausstellung des Nxt Museum sind spektakulär. In
der Installation „Connected“ (2020) des niederländischen Medienkünstlers
Roelof Knol legt eine Projektion ein Gittergeflecht über den Boden des
gesamten Raums, das kontinuierlich auf die Bewegungen der Personen im Raum
reagiert und deren Abstände zueinander in Echtzeit in leuchtenden Linien
darstellt.
Durch die individuellen Bewegungen der Besucher ergeben sich ständig neue
geometrische Konstellationen als eindrucksvolle Visualisierung physischer
Entfernungen zwischen einzelnen Körpern. Auch wenn sie wie ein Kommentar zu
aktuellen Coronavorschriften betrachtet wird, ermuntert die Interaktion mit
der Projektion unwillkürlich zum Spiel. Auch weil alles perfekt
funktioniert: Videoprojektionen, Soundsysteme, Sensoren – die gesamte
Bandbreite des zeitgenössischen theatralischen Werkzeugkastens kommt in
vollem Umfang im aufwändig umgebauten ehemaligen Fernsehstudio, in dem nun
das Nxt Museum residiert, zum Einsatz. Kunst ist hier auch Show und nicht
ohne Pathos.
Wenn das britische Kollektiv Marshmellow Laser Feast in einen
vollverspiegelten Würfel einlädt, in der sich ins Endlose spiegelnde
Videoprojektionen die Entwicklung eines Schwarzen Lochs zeigen, wirkt die
Opulenz barock. Ein Besuch ihrer Installation „We live in an ocean of
air“(2018) in der Londoner Saatchi Gallery inspirierte Museumsdirektorin
Merel van Helsdingen zur Gründung des Nxt Museums. „Ich habe mich gefragt,
warum wir in den Niederlanden keinen Ort für immersive Kunst haben. Also
schrieb ich einen Geschäftsplan.“ Der Plan ging auf: Von der Idee bis zur
Eröffnung brauchte van Helsdingen weniger als zweieinhalb Jahre und stemmte
das Projekt völlig ohne öffentliche Förderung, nur mit privaten
Unterstützern und der niederländischen Rabobank.
In einem anderen Raum zeigt Thijs Biersteker ein Ergebnis seiner
Zusammenarbeit mit dem renommierten italienischen Pflanzenneurologen
Stefano Mancuso, „Econtinuum“ (2020). Eine Skulptur aus recyceltem
Kunststoff stellt zwei Baumwurzeln dar, eine flirrende Projektion auf sie
illustriert, wie Pflanzen untereinander kommunizieren und voneinander
lernen. Sensoren im Raum erfassen das Verhalten der Besucher und speisen
deren Daten in die Kommunikation zweier künstlicher Intelligenzen ein,
deren Dialog analog zu dem der Pflanzen verlaufen soll. Der Künstler möchte
seine Präsentation als Modell für eine artübergreifende Symbiose verstanden
wissen.
Für die von Bogomir Doringer kuratierte Ausstellung „Shifting Proximities“
wurden die über 2000 Quadratmeter des ehemaligen TV-Studios in sieben Säle
mit je einer Medieninstallation ausgebaut, verbunden durch Übergangsräume,
in denen Animationen auf großen Monitoren die Besucher auf die folgende
Präsentation einstimmen. Alles entwickelt sich aus einer musikalisch
untermalten Dunkelheit, man taumelt von einer überwältigenden Präsentation
in die nächste, für Reflexion bleibt wenig Raum. Die Präsentationen feiern
die Technologien.
Nur zwei Exponate bergen explizites kritisches Potential. Die
futuristischen Fotoautomaten in der Installation „Biometrical Mirror“ von
Lucy McCrae messen mit Kameras und Gesichtserkennungssoftware emotionale
Stabilität, Freundlichkeit und Schönheit und lassen eine KI ein erstelltes
Porträtfoto auf humorvolle Weise dekonstruieren.
Nicht weniger unterhaltsam, aber ernster wird es in der Präsentation der
amerikanischen Medienaktivistin Joy Boulamwini. Sie thematisiert in ihrer
Videoserie [1][am Beispiel digitaler Gesichtserkennung den inhärenten
Rassismus von KIs], die in Programmen großer internationaler
Technologiekonzerne, von IBM bis Microsoft, zur Gesichtserkennung
eingesetzt werden. Diese scheitern an Bildern, die Gesichter schwarzer
Frauen zeigen, ordnen diese falsch zu oder erkennen sie nicht als
menschliche Gesichter. Auch Boulamwini selbst hatte dieses Problem, bis sie
eine weiße Maske aufzog und dann sofort „erkannt“ wurde. Seitdem hat die
Künstlerin das Algorithmic Vulnerability Bounty Project initiiert, das eine
Reihe von Tools bereitstellt, um durch KI verursachte Bedrohungen und
Schäden zu melden.
Wie der Titel der Ausstellung suggeriert, verschiebt sich die Nähe gerade,
nicht nur zwischen Organismus und Maschine, Software oder Künstlicher
Intelligenz, sondern auch die zwischenmenschliche Nähe, die sich ins Netz
verlagert, auf soziale Plattformen. So oder so, es bleibt die Nähe oder
Distanz zwischen Menschen, zwischen Programmierern und Konsumenten, deren
sozialem Umfeld, Medienverhalten und Erwartungen.
In der soeben eröffneten Gruppenschau „Real Feelings – Emotion and
Technology“ im Haus der elektronischen Künste Basel (HeK) ist neben zwanzig
weitere Positionen eine weitere Arbeit Lucy McCraes zu sehen. Mitten im
Raum steht als nahezu einziges Exponat, das ohne Video oder
Computerkomponenten auskommt, ihr „Solitary Survival Raft“(2020), ein
orangefarbenes, gepolstertes Rettungsfloß, halb Skulptur, halb Kulisse für
eine in regelmäßigen Intervallen stattfindende Vorführung.
Dafür legt sich eine Performerin auf das Floß und steckt ihren Körper in
eine Art Hülle, aus der die Luft abgepumpt wird, bis sie sich fest an den
Körper anschmiegt. Als beruhigende Simulation von Körperkontakt spendet sie
pneumatischen Trost für eine Zeit, in der soziale Verantwortung sich in der
eingehaltenen Distanz zwischen menschlichen Körpern ablesen lässt.
Die Sehnsucht nach körperlicher Berührung spricht auch aus der Installation
„Synthetic Seduction“ (2018). Sie besteht zum einen aus dem Video
„Foreigner“ von Stine Deja, in dem ein computeranimierter Android die
Schnulze „I want to know what love is“ der Rockband Foreigner aus dem Jahr
1984 singt. Der Kalauer ist, dass dem Roboter das Wesen der Liebe fremd ist
wie jeder maschinenbasierten Intelligenz; die spannendere Frage vielleicht
das Motiv des Fremden in diesem Kontext.
Um das Video zu betrachten, nimmt man im Silikonsessel „Skin to Skin“ von
Marie Munk Platz, dessen Oberfläche wie menschliche Haut aussieht und in
dessen Inneren es dumpf pulsiert. So eingeklemmt stellt sich die Frage nach
der Beziehung von natürlichem und virtuellem Leben und Erleben.
Noch deutlicher wird dies im Video von Ed Fornieles, „Test Studies“ (2017).
Darin berichten vier junge Leute von einem vom Künstler entwickelten
Rollenspiel, in dem sie Simulationen verschiedener mehr oder weniger
wahrscheinlicher postapokalyptischer Szenarien durchlebten, darunter die
Auflösung der Welt, eine Invasion durch Aliens sowie eine Pandemie.
Im zweiten Teil werden computeranimierte Bilder der Krisensituationen
gezeigt. Das Rollenspiel schuf für die Teilnehmer Möglichkeitsräume, um in
selbst gewählten Rollen Ängste, Trauer und andere Gefühle zu erleben. Die
extremen Krisen mögen dazu beigetragen haben, dass die eigenen wenn auch
nur gespielten Emotionen stärker empfunden wurden, und erscheinen einzelnen
realer.
## Es passiert bereits in den sozialen Medien
In ihrer Ausstellung gelingt HeK-Direktorin Sabine Himmelsbach eine
vielschichtige Reflexion über das Wesen der Gefühle in der digitalisierten
Welt, auch weil sie dafür auf eine vergleichsweise nüchterne Präsentation
setzt, mit dem Ziel der Stärkung der kritischen Instanz der Betrachter in
unserem postfaktischen Zeitalter, in dem individuelle, oft vage Gefühle dem
Einzelnen bedeutender erscheinen als nachprüfbare Fakten.
Die Rolle digitaler Technologien, die unsere Gefühle immer besser lesen
werden, ist nur ein Aspekt. Wenn aber weiterentwickelte KIs unsere Gefühle
analysieren, auswerten und zu formen versuchen, wie es bereits auf sozialen
Plattformen geschieht, wird das Ergebnis überwältigender sein, als es der
Theaterdonner in Amsterdam auszumalen vermag.
20 Sep 2020
## LINKS
[1] /Dekolonialisierung-von-Algorithmen/!5706540
## AUTOREN
Andreas Schlaegel
## TAGS
Bildende Kunst
Immersive Kunst
Social Media
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
Kommunikation
zeitgenössische Kunst
Schwerpunkt Coronavirus
Soziale Medien
Kunst
BDS-Movement
Kunst Berlin
Virtual Reality
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Kunst des Bilderverschickens: Existenzbestätigung
Von der Postkarte zum Social-Media-Auftritt: Das Versenden und Teilen von
Fotos ist Thema der Ausstellung „Send me an image“ in der C/O Galerie in
Berlin.
Zu Besuch auf der Plattform apex.art: Zum Dahinschmelzen
Die Ausstellung „Goodbye, World“ von Andreas Templin und Raimar Stange
bringt die Kunst ins ewige Eis. Dort geht sie dann zugrunde.
Emotionen lesen in Zeiten von Corona: Wenn man sich bedeckt hält
Meist können wir ganz gut die Gefühle unseres Gegenüber einschätzen. Aber
wie funktioniert das? Und was, wenn jemand eine Maske trägt?
Künstliche Intelligenz: KI außer Kontrolle
Enquetekommission streitet über die Regulierung selbstlernender Maschinen:
Braucht man eine Behörde oder nur mehr Transparenz?
Ausstellung in der Eres-Stiftung: Und dann sind wir Bambi
Die Gruppenausstellung „And the forests will echo with laughter“ in der
Münchner Eres-Stiftung widmet sich dem Wald als sozialem Raum.
Zeitschrift für Anti-Antisemitismus: Texte zur Kunst gegen BDS
Die Debatte um die israelfeindliche BDS-Bewegung hat die Kunstszene
erreicht. Prominente Autor:innen positionieren sich sehr deutlich.
Gallery Weekend in Berlin: Den Marathon immer weitertanzen
Nicht alles ist wie immer: In Berlin fand eine abgespeckte und trotzdem
lohnenswerte Version des Gallery Weekends statt.
Virtual Reality: Der totale Film
Wie verhält sich die VR-Technik zum Realismusgebot des Kinos? Neue Filme
zeigen die Möglichkeiten des Kinos – und die Grenzen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.