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# taz.de -- Neuauflage einer Studie von Hannah Arendt: Gerechtigkeit für Rahel…
> Vor 250 Jahren wurde eine Autorin geboren, die doppelt gelitten hat.
> Unter den Männern, die sie erklärt, und den Frauen, die sie verkitscht
> haben.
Bild: Rahel Varnhagen, Ausschnitt aus einer Zeichnung von 1807
Szenario für einen Film: Im Sommer 1814 schifft sich Rahel Robert nach New
York ein. Sie wagt, mit 43 Jahren, den Aufbruch in die Neue Welt. Zurück
bleibt ihr fast 15 Jahre jüngerer Liebhaber. Die Hochzeit ist eigentlich
für den September geplant. Von der Abreise weiß nur ein kleiner Kreis ihrer
Freundinnen. Erst als das Schiff den Hafen verlassen hat, überbringen sie
den Abschiedsbrief an Karl August Varnhagen von Ense.
Rahel Robert, geborene Levin, wäre nie Rahel Varnhagen geworden. Die
geplatzte Hochzeit – ein Skandal? Vermutlich. Immerhin: Unter den
Jugendfreundinnen gab es einige Scheidungsfälle. Schwerer wiegen andere
Fragen: Hätte Rahel Robert in Amerika größere intellektuelle Freiheit
gewonnen? Hätte sie zu Lebzeiten mehr publiziert? Das Gedankenspiel wirft
ein Schlaglicht auf die Wege der Emanzipation, auch die Ideen, die für ihre
Zeit noch zu kühn waren.
Mit allen harten Konsequenzen für die Überlieferungsgeschichte. Wer war
Rahel Varnhagen? Die Frau, die wir aus dem „Buch des Andenkens für ihre
Freunde“ kennen? Herausgebracht direkt nach ihrem Tod von ihrem Ehemann,
erst als Privatdruck, dann in drei Bänden. Liefern die zeitgenössischen
Zeugnisse ein genaueres Bild? Die Porträts in Briefen Dritter? Vieles und
Widersprüchliches wurde schon im 19. Jahrhundert gedruckt.
Kluge Frauen wie Rahel Varnhagen haben oft doppelt gelitten: unter den
Männern, die sie erklärt, die sie publiziert und manchmal verstümmelt
haben. Dann aber auch unter den Frauen, die sie verkitscht haben. Die sich
sehr für Scherenschnitte interessierten, aber kaum fürs intellektuelle
Profil. Natürlich gibt es Ausnahmen: Da wäre etwa [1][Hannah Arendts]
Varnhagen-Buch, das nun endlich in kritischer Edition vorliegt.
## Arendt schreibt gegen „Verstümmelung“
Arendt schrieb gegen die Überlieferung an, gegen die Mythen und
Vereinnahmungen. In den Lesesälen der Staatsbibliothek arbeitete sie sich
1931 durch die Handschriften der Briefe und Tagebücher Rahel Varnhagens. In
einem Notizbuch sammelte sie Fehler, Falschheiten, Entstellungen. Noch ein
Vierteljahrhundert später, als das Buch über Rahel Varnhagen schließlich
erschien, ist Arendts Zorn spürbar: Gegen „Verstümmelung“ und
„Verfälschung“, gegen „Platt- und Schönmalerei“ will sie das ungedruc…
Material in Stellung bringen.
Historische Gerechtigkeit für Rahel Varnhagen? Zum 250. Geburtstag
erscheint der „Briefwechsel mit Jugendfreundinnen“ – der Band setzt die
Edition von Tagebüchern und Korrespondenzen fort, die die Germanistin
Barbara Hahn seit einigen Jahren verantwortet. 415 Briefe, geschrieben
zwischen 1792 und 1830. Der Rhythmus ist unregelmäßig: Mal gehen die Briefe
im Stakkato ein. Dann wieder langes Schweigen. Die Poststempel führen durch
Europa: Berlin, Wien, Paris, Rom, London, Stockholm. New York ist nicht
dabei.
Man liest, wie Rahel Varnhagen, die anfangs noch Levin hieß, mit dem
Schreiben ringt. Nach Paris schreibt sie 1802 an Wilhelmine von Boye:
„Deine Drohung nur und das lebhafte Vergnügen von einer Art Stadtfalter wie
du bist, aus meinem verwirrten Paris Nachricht zu bekommen, können mich nur
bewegen die schrekliche Handlung, die zerstöhrende für mich des Schreibens
zu begehen.“ Wie die Freundinnen spielerisch, zwischen den Sprachen
wechseln: ein wenig Italienisch hier, etwas Französisch dort, auch
Englisch.
Friederike Liman schickt Übersetzungsversuche: Goethe auf Englisch, noch
etwas holprig. „Who ne’er his bread with tears has eat.“ Rahel Varnhagen
ermutigt sie Jahre später, über Goethe etwas zu veröffentlichten, freilich
anonym. Und gibt schriftstellerischen Rat: „Schreibe wie du sprichst“, was
„dir so nach und nach darüber einfällt“. Unerschrockener im Schreiben und
Publizieren war Lucie Domeier. Eine Jugendfreundin Rahels, die nicht aus
Berlin kam. Unter ihren Texten wollte sie auch ihren Namen gedruckt sehen.
## Die legendären Salons
Längst nicht alles findet sich in den Briefen. Nicht nur, weil von Rahel
Varnhagen viel weniger Briefe überliefert sind als von den Freundinnen.
Verstellt bleibt die Berliner Geselligkeit, bleiben die legendären
[2][Berliner Salons]. In den 1790er Jahren schien die Welt für eine kurze
Zeit offen. So vorurteilsfrei, wie der Mythos es will, ging es in ihren
Salons sicher nicht zu. Nicht nur Hannah Arendt reflektiert den
Antisemitismus, mit dem Rahel Varnhagen konfrontiert war.
Und doch: Wie liberal der Kreis um Rahel Varnhagen bei allen Vorbehalten
und Heimlichkeiten war, zeigt der Kontrast mit den Männerbünden, die wenig
später die Salonszene dominierten. Wirkt dagegen die Deutsche
Tischgesellschaft nicht rückschrittlich – mit ihrem krassen Nationalismus,
dem dreisten Antisemitismus, der trinkenden Bündelei? Heinrich von Kleist
war dort dabei oder Johann Gottlieb Fichte.
Die Briefe verraten davon wenig. Auch die politischen Ereignisse spielen
nur am Rande eine Rolle. Über die Französische Revolution sind die
Freundinnen nicht alle einer Meinung. Die Briefe spiegeln das kaum. Wie sie
sich über die Restaurationsprozesse um den Wiener Kongress austauschen,
würde man gern lesen. Karl August Varnhagen saß immerhin für Preußen mit am
Tisch, Rahel war ganz nah dran.
## Arrangierte Ehen gehen auseinander
Beobachten lässt sich, wie die Freundinnen versuchen, ihrer
unselbstständigen Position zu entkommen. In den 1790er Jahren beginnen die
meisten Briefwechsel – sechs der sieben arrangierten Ehen gehen in diesem
Jahrzehnt auseinander. Man berät sich vorsichtig, auch verdeckt – Briefe
können durch viele Hände gehen und von unerwünschten Augen gelesen werden.
Neugier und Beobachtung ließen sich taktisch nutzen. So schreiben die
Freundinnen um 1802 bewusst und verschwörerisch für die zusätzlichen
Mitleser: Eine Person wird aus dem Hut gezaubert – Madame Renaud. Wozu? Um
die schwangere Nette Marcuse zu schützen, eine Nichte von Friederike Liman.
Devise: „behaupten Sie Brief und Post gegen alle die auf den Gedanken der
Idendität zwischen MdR. und Nettchen gerathen, daß die lezte ruhig in
Berlin gesessen, und daß die andere in Frey. niedergekommen sey.“
Andere Lektionen klingen scherzhafter. „Die besten Gründe wider das
uneheliche Leben werden Sie gewiß von Diderot auswendig gelernt haben.“
Anfang 20 war Rahel, als sie Jette Henriette Mendelssohn an Diderots
Familiendrama erinnert. Ihren eigenen Rat wird sie die nächsten 20 Jahre
nicht befolgen: 43 ist sie, als sie die Religion wechselt und den früheren
österreichischen Offizier und späteren preußischen Diplomaten Karl August
heiratet.
Nach Amerika wäre Rahel Varnhagen beinahe tatsächlich gekommen: „Sie
dachten wohl auch Varnhagen ist in Ketten und Banden.“ Das schreibt sie im
Dezember 1819 etwas kryptisch. Ihr Mann hat ein Angebot, als Diplomat nach
Nordamerika zu gehen, ausgeschlagen. Das Ehepaar kehrt stattdessen zurück
nach Berlin. Wieder wird ein Salon eröffnet – unter drastisch veränderten
Bedingungen.
Ganz unbekannt ist das alles freilich nicht mehr. Nicht zuletzt aufgrund
von Hannah Arendts „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der
Romantik“. Erst ein gutes Vierteljahrhundert nach der Arbeit im Berliner
Lesesaal konnte das Rahel-Buch erscheinen: zunächst auf Englisch, dann auf
Deutsch. Arendt lebte da schon längst in New York.
## Das Leben und Denken der ganz Großen
Nicht nur theoretisch hat sich die Autorin im Exil weiterentwickelt. So
bleibt das verspätete Buch ein Hybrid. Eine psychologisierende
Lebensgeschichte wollte sie zu keinem Zeitpunkt schreiben. Und doch steckt
sie methodisch noch halb in der alten Geistesgeschichte fest, die sich
einfühlen will in das Leben und Denken der ganz Großen. Der ganz großen
Männer, meistens.
Schwärmerei als Fundament? Vertraulich beim Vornamen nennt Hannah Arendt
Rahel Varnhagen gern. In einem Brief beschreibt sie sie einmal als
„wirklich beste Freundin“. Da steckt noch steife Betulichkeit drin. Daneben
und darunter liegen historische Reflexion und politische Theorie. In Paris
entsteht das berühmte Kapitel über Paria und Parvenu, in dem Arendt
Grundbegriffe ihrer späteren Philosophie entwirft. Es widmet sich den
Jahren des Umbruchs zwischen 1815 und 1819.
1819, das ist „das Jahr mit der Ermordung Kotzebues, den darauf folgenden
Karlsbader Beschlüssen und dem Beginn der Demagogenverfolgungen aller
liberal Gesinnter“, schreibt Hannah Arendt in ihrem Porträt der Rahel
Varnhagen. Radikal reagieren einige junge Frauen der nächsten Generation –
von Rahel Varnhagen inspiriert. Ottilie von Goethe gründet 1829 die
internationale Zeitschrift Chaos – jeder schrieb darin in seiner Sprache.
Rahel Varnhagen wollte nach ihrem Tod gedruckt werden. Nach Karl August
Varnhagen übernahm dessen Nichte Ludmilla Assing die Aufgabe. Sie legte den
Grundstein für die Sammlung Varnhagen, die Hannah Arendt studieren wird.
Ludmillas Schwester, Ottilie Assing, schiffte sich 1852 nach Amerika ein.
Dort machte sie Bekanntschaft mit dem Abolitionisten Frederick Douglass –
und schickte Nachrichten nach Europa. Rahel Varnhagen war da schon 20 Jahre
tot.
15 May 2021
## LINKS
[1] /Hannah-Arendt-Ausstellung-in-Berlin/!5681502
[2] /Hamburgs-Juedischer-Salon/!5030148
## AUTOREN
Hendrikje Schauer
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