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# taz.de -- 250. Geburtstag von Rahel Varnhagen: Aufruhr im Salon
> Varnhagens Salon war ein Ort sozialen Austausches: Als solche haben
> Salons in Berlin vor allem dann Konjunktur, wenn die Gesellschaft in
> Bewegung ist.
Bild: Konzert im Kiezsalon in der Musikbrauerei in Berlin
Groß sei ihre Phantasie, schrieb sie in einem Brief an einen Freund: Als
habe ihr beim Eintritt in die Welt ein „außerirdisches Wesen“ eine Art
Befehl gegeben, ja „mit einem Dolch ins Herz gestoßen“. Der Befehl habe
gelautet: Sie solle empfindsam werden, die Welt sehen, „wie sie Wenige
sehen“, ja „groß und edel“ sein. Leider habe ihr aber keiner gesagt, dass
sie auch Jüdin sein müsse. Nun sei ihr „ganzes Leben eine Verblutung“.
Rahel Varnhagen, die hoch gebildete Tochter eines reichen jüdischen
Financiers und Juwelenhändlers in Berlin, war gerade mal 24 Jahre alt, als
sie diese drastischen Zeilen schrieb. Sie verraten viel über den Motor, der
diese Frau antrieb. Dass ihr Salon zu den erfolgreichsten und
einflussreichsten der Stadt avancierte, dass die meisten Salons, die damals
eher Geselligkeiten hießen und eine so wichtige Funktion in dieser Stadt
einnahmen, meist von jüdischen Frauen wie Henriette Herz, Amalie Beer,
Philippine Cohen oder Sara und Marianne Meyer geführt wurden, dass diese
Zeit manchmal Rahelzeit genannt wird: Dies erklärt sich aber nur zu einem
kleinen Teil aus Rahel Varnhagens Brief.
Bis heute ist es ein Phänomen, wie Rahel Varnhagen, die am 19. Mai vor 250
Jahren geboren wurde, der „Verblutung“, die sie befürchtete, entgehen und
so berühmt werden und die öffentliche Meinung mitgestalten konnte, ohne
Mann und Christ*in zu sein, ohne Adelstitel und Bürgerrechte zu besitzen.
Sie war eine Vorreiterin der Emanzipation der Juden und der Emanzipation
der Frau.
Es ist ebenfalls ein Phänomen, dass sich in Varnhagens Salon Aufsteiger und
Arrivierte, Menschen verschiedener Stände und Berufe sowie
unterschiedlicher religiöser oder politischer Orientierungen zu Gesprächen
trafen, die davor streng unter sich geblieben waren. Unbekannte, die kaum
Spuren hinterlassen haben, Stars von den Humboldt-Brüdern bis zu Friedrich
Schlegel, von Jean Paul bis Ludwig Tieck: Sie alle sahen in Varnhagen eine
Gesprächspartnerin und Vermittlerin, die charmanter, schöner, klüger,
kultivierter, sprachbegabter und eben auch empfindsamer nicht hätte sein
können.
In der heiteren und zwanglosen Halböffentlichkeit des Salons galten die
starren Hierarchien und die mangelnde Durchmischung der Stände, der
religiösen Minderheiten und Berufsgruppen im Preußen der damaligen Zeit
nicht mehr. Jüdische Frauen verließen ihre wohlhabenden jüdischen Männer,
um mit adligen, aber mittellosen Schriftstellern zusammen zu leben. Es war
die Zeit der Romantik, in der es viel darum ging, jegliche Grenzen zu
sprengen.
Die amerikanische Historikerin Deborah Hertz hat in ihrem Buch „Die
jüdischen Salons im alten Berlin“, das nicht ohne Grund in Deutschland 2018
zum vierten Mal neu aufgelegt wurde, beschrieben, wie der Erfolg der Salons
zu erklären ist. Ende des 18. Jahrhunderts war eine Zeit der Veränderungen
in der Berliner Gesellschaft. Die Stadt hatte sich von 1700 bis 1800 auf
das Sechsfache vergrößert.
Und alle gesellschaftlichen Gruppen, die sich in den Salons trafen, waren
aus unterschiedlichen Gründen unzufrieden. Der Adel befand sich in der
Krise, weil er Liquiditätsprobleme hatte. In Preußen gab es kein
Erstgeburtsrecht, die Länder wurden an die Söhne aufgeteilt, so dass immer
mehr Familien von immer weniger Land leben mussten. Hinzu kamen die
steigenden Getreidepreise, die steigende Grundstückspreise nach sich zogen.
Viele verkauften ihre Ländereien und gingen in die Stadt, zum Heer oder in
den Staatsdienst. Einige Adlige wie Wilhelm und Alexander Humboldt,
Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Adalbert von Chamisso und Friedrich
von Hardenberg, besser bekannt als Novalis, weigerten sich, diese öden
Posten anzunehmen, die ihnen die Gesellschaft anzubieten hatte. Lieber
stürzten sie sich ins kaum lukrative Geistesleben. Sie strebten nach einer
ganz neuen Lebensweise.
Aber auch für die Berliner Bürger*innen war das 18. Jahrhundert eine
bewegte Zeit. Zumindest den männlichen unter ihnen bot etwa das
Erziehungssystem ganz neue Aufstiegschancen, indem sie Hofmeister oder
Professor an einem Gymnasium oder einer Akademie wurden. Wegen ihres
fehlenden Adelstitels aber bekamen sie dennoch kaum gesellschaftliche
Anerkennung.
Und die Berliner Jüdinnen und Juden? Sie hatten guten Grund, mehr als alle
anderen an den engen Grenzen zu verzweifeln, die ihnen gesteckt waren. Die
Vorfahren vieler von ihnen waren schon im 17. Jahrhundert aus Wien
vertrieben und nach Berlin und in die Mark Brandenburg geholt worden. Denn
sie brachten flüssiges Geld zum Aufbau der preußischen Armee mit. Ihre
Nachfahren wie Rahel Varnhagens Vater gehörten zu den reichsten Männern
Mitteleuropas, hatten aber mit erniedrigenden Beschränkungen zu kämpfen.
Nach einem Gesetz von 1713 erbte nur der älteste Sohn den Schutzbrief und
damit das Aufenthaltsrecht des Vaters. An den Zollschranken mussten sie
einen eigens für sie erfundenen Leibzoll entrichten. Wie für die
Bürger*innen und Adligen müssen auch auf die jüdischen Gäste die Salons
wie ein Freiraum gewirkt haben.
Viele Historiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen
meinen, in der Geschichte Deutschlands habe es nie wieder so etwas gegeben
wie die Salons der jüdischen Frauen um 1800. Wer aber Salons ein wenig
weiter fasst als Gesprächsrunden, in denen No Names zu Wort kommen und sich
auch mal Newcomer und Etablierte austauschen, dem drängt sich eine ganz
andere These auf. Wenn in Deutschland die Gesellschaft durcheinander gerät,
haben oft auch Salons und salonähnliche Zusammenkünfte Konjunktur.
Direkt nach der Wende beispielsweise: Da entstanden besonders im Ostteil
der Stadt etwa Lesebühnen, wo sich im Wochentakt oft vor allem junge,
männliche Autoren mit DDR-Sozialisation trafen. Gegen kleines Eintrittsgeld
trugen sie oft mit einigem performativem Verve schnell gestrickte Texte
vor, die sich auch auf die politischen und gesellschaftlichen Neuerungen
der Woche beziehen konnten.
Nicht selten kamen Verleger*innen, Journalist*innen und
Literaturagent*innen zu diesen Veranstaltungen, blieben nach den
Lesungen auf ein paar Bier, um zu quatschen und dabei en passant nach neuen
Talenten zu fischen. Auch wenn das viele der Autoren bis heute vehement
abstreiten würden: Nicht zuletzt ging es nach der brutalen Abwicklung der
meisten DDR-Verlage nach der Wende bei diesen Bühnen auch darum, einen Fuß
in den Literaturbetrieb des Westens zu bekommen. Und gleichermaßen ging es
um das Bedürfnis dieses Betriebs nach neuen Leser*innen.
Und wie sieht es heute aus mit Salons und salonähnlichen Veranstaltungen?
Erst 2018 hat das altehrwürdige, bürgerliche Literaturhaus Berlin in der
Fasanenstraße mit den zwei neuen Chefinnen Janika Gelinek und Sonja
Longolius einen erstaunlichen Neustart hingelegt. Eine ihrer ersten
Korrekturen: Die Einführung der Reihe „My favourite kitab“, bei der
arabische Autor*innen zu Gast waren – inklusive deutscher
Simultanübersetzung. „Wir haben uns anfänglich richtig gewundert, wie
riesig und wie lebendig das Publikum an diesen Abenden war“, so Janika
Gelinek.
Gelinek und Longolius haben erkannt: Die Berliner Gesellschaft steht erneut
unter großem Veränderungsdruck. Die Stadt wird größer, teurer,
vielfältiger. Immer mehr Menschen aus aller Welt kommen, um zu bleiben und
angstfrei mitzureden. Die Salons, die sie gründen, haben es vielleicht
längst nicht mehr nötig, aufs Establishment zu warten.
15 May 2021
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
taz.gazete
Jüdinnen
Kultur in Berlin
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Studie
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