# taz.de -- Vor dem Oster-Lockdown: Ein deutsches Drama | |
> Die Politik verwaltet Missstände, die Bürger:innen schauen mit | |
> Faust'schem Fatalismus zu. Die Lösungsseite aber, das Konstruktive, fehlt | |
> komplett. | |
Bild: Teil des Dramas: TUI-Flotte erwartet deutsche Welterober am Flughafen in … | |
Im deutschen Wesen gab es stets dieses Schwanken zwischen Welteroberung und | |
Weltabgewandtheit. Das eine wurde mal mit kriegerischer Energie und mal mit | |
wirtschaftlichem Elan betrieben, das andere war immer eine deutsche | |
Grundierung, seit der Romantik spätestens, aus einer tiefen Verstörung | |
entstanden wiederum über das Wesen dieser Welt; kein Wunder, dass die | |
Dialektik hier geboren wurde. | |
Zwei Seelen also sind es, hat mal jemand gesagt, und so sind beide, Zaudern | |
wie Hochmut, deutsche Realität. Es ist eine Unsicherheit, die dieses Land | |
durchzieht, kompensiert durch eine herrische Art, die das eigene Scheitern | |
mitreflektiert. Das Autoritäre, das sich in verschiedenen Gestalten zeigt, | |
trägt hier immer auch die Signatur der eigenen Schwäche. Diese deutsche | |
Tiefenunentspanntheit zieht sich bis ins Gesicht von Michael Müller, dem | |
Regierenden Bürgermeister von Berlin. | |
Und so ist das Schauspiel, das wir gerade erleben, ein sehr deutsches | |
Drama, durchzogen von Faustschem Fatalismus. Die Müdigkeit des Alten prägt | |
die Auftritte und Aktionen, das Stöhnen aus der Studierstube, haben nun | |
ach, ist im ganzen Land zu hören. Aus Unentschlossenheit ist schon lange | |
Phlegma geworden, und weil das Publikum weit weg ist, im Lockdown auf den | |
billigen Plätzen, bleibt für die Politik das Parkett der eigenen | |
Plattitüden. Hilflosigkeit herrscht, und so ziehen die Scharen lieber fort, | |
nach [1][Mallorca]. | |
Dass das wiederum geschehen darf, ist Teil des Dramas, weil diese | |
touristische Form der Welteroberung wiederum ja ein sehr gelerntes | |
Verhalten nach dem verlorenen Krieg wurde. Expansionsstreben also per | |
Wohnwagen statt mit Wehrmachtpanzern, hätte man in den politisierten 70er | |
Jahren vielleicht gesagt, oder die kollektive Club-Med-Flucht vor dem | |
eigenen Schuld-Ich, hätten die therapeutischen 80er Jahre diagnostiziert. | |
Oder doch Hedonismus der demokratischen Art, im Geist der konsumistischen | |
90er Jahre? | |
## Ratloses Umhertaumeln | |
Zu bestaunen ist hier jedenfalls die leicht panische Form von | |
Weltaneignung, die von Weltenflucht oft kaum zu unterscheiden ist. Provinz | |
ist schließlich überall, was dann auch den geistigen Diskurs gerade prägt, | |
da unterscheiden sich die TUI-Kolonnen nicht so sehr von den | |
Feuilleton-Kohorten, die sich auch lieber mit ziemlich sinnlosen Schlachten | |
über angebliche Sprachzensur oder Schlimmeres selbst bespaßen, als sich den | |
Zumutungen der nahen Zukunft zu widmen. Oder sogar deren Chancen und | |
Möglichkeiten. | |
Die Langeweile, die diese Diskussionen unter Gleichgesinnten prägt, die | |
sich als Dissidenten der Meinungsfreiheit gerieren, wäre schon in ruhigeren | |
Zeiten schwer zu ertragen – in diesen Drama-Tagen aber, wo Schüler und | |
Eltern ratlos umhertaumeln, Künstler, Selbständige, Gastronomen ihre Wut | |
kaum noch finanzieren können und die immer neuen Fristen bis zur nächsten | |
MPK mit scheinbar lockerer Hand gesetzt werden, wird sie zum Spiegel | |
dessen, was man leicht als Porträt eines jämmerlichen Landes zeichnen | |
könnte. | |
## Selbstverkleinerung der Handelnden | |
Auch die Maßnahmen, die nun wieder verkündet wurden, zielen auf den | |
kollektiven Innenraum, Abschottung, Kontrolle, die Einzelnen in ihrer | |
Stube, des Dramas erster Teil – die Faust’sche Verzweiflung wiederum, die | |
ihn hinaus treibt zu Wissenschaft und Welteroberung im Geiste, die | |
technische, die gedankliche, die konstruktive, die Lösungsseite, sie fehlt | |
fast komplett, in den Diskursen der politischen Repräsentanz genauso wie in | |
den sie begleitenden medialen Formen und Foren. Und das ist dann vielleicht | |
das eigentliche Drama. | |
Denn diese Möglichkeiten gibt es ja, also die im Drama zweiter Teil | |
angelegte naturwissenschaftliche Form der Weltaneignung und -veränderung, | |
in diesem Fall: Impfen, Testen, digitale Übersicht über das | |
[2][Infektionsgeschehen], kleinteilige Lösungen, schlaue Wissenschaftler, | |
Innovation in Bildung, eine andere Form der politischen Kommunikation, | |
Öffnung, Vertrauen, den Blick auf das Morgen gerichtet, eine Sprache der | |
Gemeinsamkeit, eine demokratische Praxis der Verantwortung, sich selbst und | |
den anderen gegenüber. | |
Stattdessen bleibt es, politisch und kommunikativ, beim Management der | |
Missstände, wie Jeremy Cliffe vom [3][New Statesman ] beobachtet – eine | |
andauernde Selbstverkleinerung der Handelnden im Angesicht der | |
Herausforderungen, ein Verstecken hinter Vollzug, eine Verarmung, | |
sprachlich und real, und ein unklares Bekenntnis zur eigenen Verantwortung. | |
Die Welt mit ihren Möglichkeiten bleibt verschlossen, die Perspektiven | |
fehlen, der Horizont. Das ist der Frustmoment, die Verdrossenheit, die sich | |
gerade in die Substanz der Gesellschaft frisst. | |
Problematisch ist diese deutsche Gemengelage, weil sie zu einem Druckstau | |
führt, den Goethe ja auch beschreibt, eine erotische Energie in diesem | |
Fall, die aber auch ganz andere Formen annehmen kann. Die | |
Routinehaftigkeit, mit der dieser Ausnahmezustand in eine Art Automatismus | |
verwandelt wird, ist das Gegenteil dessen, was diesen flirrenden Fragen und | |
der latenten Furcht entspricht. Das Vakuum, das sich hier auftut, wird | |
gesellschaftliche Realität in dem Moment, spätestens, wenn die Krise vorbei | |
ist und der Schaden besichtigt wird. | |
Das hat auch mit dem Wesen und Wirken des Marktes zu tun, wie im | |
deutschesten aller Dramen vorweggenommen – die wirtschaftlichen Schäden | |
werden wohl erst in den kommenden Jahren in ihrer ganzen Drastik deutlich, | |
verbunden mit den psychischen und weiteren gesellschaftlichen Verwerfungen. | |
Die Herausforderung ist hier einerseits, von staatlicher Institutionenlogik | |
zu wirklicher Teilhabe zu kommen. Eine weitere Herausforderung ist, wie | |
sich das Wesen des Marktes so ändern kann, dass er dem Gemeinwohl dient und | |
nicht nur dem Einzelinteresse. | |
Bislang allerdings scheint nur eines klar: Der Osterspaziergang fällt aus – | |
es sei denn, es sind vier Kaninchen dabei, die mindestens zweiten Grades | |
miteinander verwandt sind. | |
24 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Reisen-zu-Ostern/!5756817 | |
[2] /Bund-Laender-Runde-zur-Coronakrise/!5760114 | |
[3] https://www.newstatesman.com/world/europe/2021/03/can-germanys-scandal-hit-… | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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