# taz.de -- Neuer Laden des Ventil-Verlags in Berlin: Tür in die Geschichte | |
> Kulturgeschichten Osteuropas, Pop-Theorie und vegane Kochbücher gehören | |
> zum Programm des Ventil Verlags. In Berlin-Pankow hat er einen neuen | |
> Laden. | |
Bild: Der Laden des Ventil Verlags soll auch zu einem Treffpunkt werden | |
Wenn auch nur im Schaufenster eines Ladengeschäfts: Walter Ulbricht hat | |
wieder das Sagen in Pankow: „Erstürmt die Höhen der Kultur!“, heißt es | |
neuerdings auf der Florastraße zwischen den S-Bahnhöfen Pankow und | |
Wollankstraße. Der Slogan geht auf einen Redebeitrag Ulbrichts zurück, den | |
er als Chef des SED-Zentralkomitees auf dem V. Parteitag im Juli 1958 | |
gehalten und womit er bereits den späteren Bitterfelder Weg vorgezeichnet | |
hatte. | |
Das war das Kulturprogramm der jungen DDR, das die Werktätigen an die Feder | |
und die Künstler in die Produktion bringen wollte. „Erstürmt die Höhen der | |
Kultur!“ war auf einem Plakat zur Woche des Buches im Oktober 1958 zu | |
lesen, montiert hatte es der Fotokünstler John Heartfield. | |
Im Jahr 2021 ist der Imperativ tatsächlich zum Buchtitel geworden: | |
„Erstürmt die Höhen der Kultur! Umkämpftes Theater in der DDR“ heißt der | |
Sammelband, den der Regisseur und Schauspieler Manfred Karge und der | |
Dramaturg Hermann Wündrich vor Kurzem veröffentlicht haben. Sein Dach hat | |
das Buch im Mainzer Ventil Verlag gefunden, der Anfang März in der | |
Florastraße 34 B seine Berliner Dependance eröffnet hat, und irgendwie | |
erscheint es logisch, wenn Karges und Wündrichs 300-Seiten-Band im | |
Schaufenster Flagge zeigt. Geht es in dem Buch doch darum, wie Theater | |
verhindert wurde und wie es trotzdem stattfand; es geht um die schöne | |
Geschichte, wie Spiel und Witz der Ideologie in die buchstäbliche Parade | |
gefahren sind. | |
Mehrere der DDR-Dramatiker aus Karges und Wündrichs Buch haben, wie Georg | |
Seidel, in Pankow gelebt oder tun es, wie Lothar Trolle, immer noch. Heiner | |
Müller wiederum, 1959 waren er und seine Frau Ingeborg in die | |
Kissingenstraße nahe dem S-Bahnhof Pankow gezogen, sollte zum Bitterfelder | |
Weg in der ihm eigenen Art bemerken: „Die Höhen der Kultur mussten planiert | |
werden, damit sie erstürmt werden konnten.“ | |
## Büchertisch auf einer alten Tür | |
Karges und Wündrichs Band liegt in der Florastraße neben Ventil-Büchern wie | |
Sascha Langes „Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und | |
Opposition im Nationalsozialismus“ und Jonathan Forsythes und Thomas | |
Venkers Foto- und Interview-Doppeldecker „Talking to Americans“. | |
Die Ventil-Kultur ist eine breit gefächerte, meint Patrick Siegmund, der | |
Berlin-Botschafter des Verlags: Bei Ventil erscheinen Bücher zur | |
osteuropäischen und DDR-Kulturgeschichte, zu Punkrock und seinen jüdischen | |
Wurzeln und sukzessive [1][die gesammelten Texte des Poptheoretikers Martin | |
Büsser], der den Verlag mitbegründet und mit seiner streitbaren Offenheit | |
geprägt hat. Der zentrale Büchertisch im Raum ist übrigens eine aufgebockte | |
alte Wohnungstür inklusive antiker Klinke, ein schönes Bild. | |
Sogar vegane Kochbücher gibt es bei Ventil, und sie gehen gut, wie Siegmund | |
nicht ohne Stolz bemerkt. Der Programmteil wird von ihm betreut. Eines ist | |
ihm wichtig: Ventil möchte keine Konkurrenz zu der seit Jahren in der | |
Florastraße aktiven literarischen Buchhandlung „Buchdisko“ sein. Die | |
Ventil-Räume sollen eine Vertretung, ein Treffpunkt und Veranstaltungsort | |
werden, zu erwerben gibt es nur eigene Titel, dazu passendes Vinyl und die | |
Produktionen eines regelmäßig wechselnden Gastverlags. Den Anfang werden | |
die Comicspezialisten von Reprodukt machen. | |
Der Ort des Ladenlokals ist ein Zufallsfund, sagt Siegmund. Dabei ist die | |
Florastraße die Adresse für Ventil. Im Haus Nr. 62 befindet sich die | |
Kneipe Prager Frühling 1968. Ihr Name ist Programm, er und das | |
Kneipenschild erinnern explizit an das tschechoslowakische Tauwetter, das | |
vom Warschauer Pakt brüderlich beendet wurde. Der Prager Frühling hatte | |
einen filmischen Vorboten und Begleiter, ihm haben Jonas Engelmann, Andreas | |
Rauscher und Josef Rauscher ein Ventil-Buch vermacht: „Tschechoslowakische | |
Neue Welle. Das Filmwunder der Sechziger“. | |
Wer die Florastraße weiterläuft, sie ist keine für den Sturmschritt, wird | |
an der Ecke Görschstraße an das [2][Carl-von-Ossietzky-Gymnasium] gelangen. | |
1988 hatten sich dort Schüler der damaligen DDR-Oberschule öffentlich | |
gefragt, inwieweit Sozialismus und Militärparaden, Friedensliebe und | |
Waffenfetischismus zusammengehören. Sie sollten sich vor einem | |
Schultribunal wiederfinden, es folgten Relegationen, Zwangsumschulungen | |
und Verweise. Ungefähr zur selben Zeit liefen an der Schule Dreharbeiten zu | |
„Coming Out“. Der Liebesfilm war die erste DDR-Produktion mit fokussiert | |
schwuler Thematik. Sieben Jahre hatte sein Regisseur Heiner Carow für die | |
Produktion gekämpft, am Abend der Premiere fiel die Mauer. Stoff für ein | |
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10 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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