# taz.de -- DDR-Spacefunk von Charlie Keller: Nur ein Kosmonautentraum | |
> „Ich, Sigmund Jähn“, ein halluzinatorisches Space-Pop-Album der Sängerin | |
> Charlie Keller, brachte die DDR-Funktionäre an ihre Geduldsgrenze. | |
Bild: Den Spacefunk in seinem Lauf, halten weder Stasi noch Mauer auf: Charlie … | |
Genug! Sie, Frau Keller und ihre Truppe, Sie werden nie eine Bühne unseres | |
Landes betreten. Von einem Tonstudio ganz zu schweigen. Um Sie werden sich | |
die zuständigen Organe kümmern.“ So stoppte ein Kulturfunktionär [1][am | |
Rande des Nervenzusammenbruchs] in der DDR der späten 1970er vorzeitig | |
einen Auftritt, den die junge Sängerin Charlie Keller gerade mit ihrer Band | |
Impuls ’78 absolvierte, ein damals übliches Konzert vor einer staatlichen | |
Einstufungskommission. | |
Die DDR wollte wissen, wer was auf ihren Bühnen sang. „Wie sind Sie | |
überhaupt bis zu uns gekommen?“, war von dem Mann im schlecht sitzenden | |
Anzug noch zu hören. Dabei hatte es die junge Sängerin doch nur gut | |
gemeint. | |
Am 26. August 1978 waren der DDR-Bürger Sigmund Jähn und Waleri Bykowski, | |
Bürger der Sowjetunion, mit der Raumkapsel Sojus 31 in den Kosmos | |
katapultiert worden. Jähn kam aus Sachsen, aus dem Vogtland, und Charlie | |
Keller hatte dem einstigen Volksschüler ein musikalisches Denkmal setzen | |
wollen. | |
## Den blaugrünen Erdenball umrunden | |
Auf den gleichermaßen coolen wie verträumten Space-Pop ihrer Mitmusiker – | |
der Name Impuls ’78 bezog sich natürlich auf das Jahr von Jähns und | |
Bykowskis Flug – hatte Keller zum ersten Jubiläum Zeilen getextet wie: „Wer | |
umrundet im Überschall / Den blau-grünen Erdenball? / Ich, Sigmund Jähn// | |
Flieg, Raumkapsel flieg / Was für ein Sieg / für unser Land.“ | |
Charlie Keller, 1957 geboren, Tochter rheinländischer Kommunisten, die nach | |
dem [2][KPD-Verbot] in der Bundesrepublik 1956 in die DDR übergesiedelt | |
waren, wollte es ernst mit dem Kommunismus meinen. Nur hatte er kosmisch zu | |
klingen, groovy und sexy. Und Impuls ’78 hätten das Kunststück | |
fertigkriegen können, so etwas wie offiziellen „State of the Art“-Agit-Pop | |
zu machen. Einer ihrer Songs, den die Einstufungskommission noch | |
wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte, hieß „Klu Klu Klu Klux-Klan“ und | |
machte aus „Dsching, Dsching, Dschingis Kahn“, dem westdeutschen Beitrag | |
zum Eurovision Contest 1979, ein antirassistisches Discobrett. | |
Auch noch durchgewunken wurde „Wir haben Hunger“, ein kantiger | |
Jazzrocktrack über die Lebensgier junger Leute. Zwei Stücke konnte die | |
Kommission dann gar nicht mehr hören: „Die Ballade von der Überlegenheit | |
der sozialistischen Wissenschaft“, Brecht’scher Funk-Pop im Stil von „Lob | |
des Kommunismus“, schade eigentlich. | |
## Hier steigen die Funktionäre aus | |
Ausgestiegen wären die Funktionäre aber spätestens bei „Im Kreis“, einer | |
psychedelischen Kakofonie, die vor dem Hintergrund des Deutschen Herbstes | |
den entfremdeten Alltag des Spätkapitalismus zum Thema hatte, genauso gut | |
aber auf die DDR nach der Biermann-Ausbürgerung passte. | |
Zum Einstufungsabbruch hatten jedoch zwei Zeilen aus dem Raumfahrtssong | |
geführt: „Wer kennt keine Grenzen mehr? / Fliegt über Mauern her? / Ich, | |
Sigmund Jähn.“ Tatsächlich über die Mauer gehen würde Charlie Keller, die | |
in den Staat ausreisen sollte, den ihre Eltern verlassen hatten; die | |
Impuls-’78-Musiker durften nach einer Bewährung in der sozialistischen | |
Produktion Ostseeurlauber mit Coverversionen bespaßen. | |
So weit, so filmreif. Wahr an dieser Geschichte ist einzig und allein der | |
[3][Weltraumflug Sigmund Jähns und Waleri Bykowskis] und dass das Hamburger | |
Indie-Label Tapete Records tatsächlich „Ich, Sigmund Jähn“ zum ersten | |
Todestag des Kosmonauten digital veröffentlicht und den angeblichen | |
Flohmarktfund einer Sängerin namens Charlie Keller zugeschrieben hat. Ein | |
Promofoto zeigt ein Tonband der DDR-Firma Orwo, auf der Hülle sind die | |
genannten Songtitel gelistet. | |
## Motivationsmucke für Leistungssport | |
Internetdiskussionen legen nahe, dass der Fake als durchaus gelungen gelten | |
kann. Zur Erinnerung: 2013 hat der schottische Musiker Drew McFayden sein | |
Elektronikprojekt Der kosmische Läufer gestartet und ihm eine irre | |
DDR-Biografie übergeholfen: [4][Genialer Tüftler hört Krautrock] und wird | |
von Funktionären an einen grauen Ort entführt, um Motivationsmusiken für | |
den ostdeutschen Leistungssport zu entwickeln. Material für mehrere Alben | |
habe der Tontechniker, der heute noch durch die Straßen Pankows jogge, so | |
aufgenommen. McFayden ist mit dieser Geschichte durchaus durchgekommen. | |
Nun hat es die DDR wirklich gegeben, doch war der Alltag im real | |
existierenden Sozialismus nicht immer so kurzweilig. Auch wenn das | |
Staatslabel Amiga tatsächlich 1978 ein aufwändig gestaltetes und | |
produziertes Tributalbum für Sigmund Jähn und Waleri Bykowski aufgelegt | |
hatte: „Die Erde dreht sich linksherum“, mittlerweile ein Sammlerstück. Das | |
Werk versammelt Schlager und [5][Beat, Jazz und Rock] mit abgefahrenen | |
Soundspielereien, so bei „In den Kosmos“, dem Beitrag der Stern-Combo | |
Meißen, die allein schon des Namens wegen dabei sein musste. Weiterer | |
Anspieltipp: der Cantus-Chor und das Orchester Lothar Kehr mit „Hoch im | |
All“, eine Art Estradendisco, wer’s mag. | |
Ja, vielleicht markiert der Flug Sigmund Jähns den letzten utopischen | |
Moment der DDR: Am 21. September 1978 wurden er und Waleri Bykowski auf | |
einer Parade durch die Karl-Marx-Allee von Tausenden Ostberlinern gefeiert. | |
Am 28. Dezember kam es zu einem plötzlichem Temperatursturz, und im Norden | |
der DDR setzte ein 72-stündiger Schneesturm ein. | |
## Als die DDR in Dunkelheit versank | |
Die Insel Rügen war von der Außenwelt abgeschlossen, die DDR versank | |
buchstäblich in Dunkelheit, die Nationale Volksarmee wurde in die Tagebaue | |
geschickt, um die Stromversorgung aufrechtzuerhalten. Bis zu 18 | |
Menschenleben kostete der als Katastrophenwinter in die Geschichtsbücher | |
eingegangene Jahreswechsel 1978/79, die Staatssicherheit verzeichnete der | |
Regierung gegenüber einen erheblichen Vertrauensschwund. | |
Nicht abzusehen dürfte in diesem Moment gewesen sein, dass die DDR im | |
darauffolgenden Jahrzehnt in ihr letztes eintreten und am Ende die traurige | |
Karikatur einer noblen Hoffnung abgeben würde. Ein Ordnungsstaat, latent | |
und konkret gewalttätig. Die DDR, die jetzt mittels einer imaginären | |
Sängerin am Himmel über Hamburg aufgeht, sieht so aus: „Wer trinkt heute | |
ein Teekännchen / Mit Mascha und Sandmännchen? / Ich, Sigmund Jähn.“ | |
Tatsächlich ist das Sandmännchen, die berühmte Figur des DDR-Fernsehens für | |
die kleinen Zuschauer, bereits 1961, im Jahr Juri Gagarins, als Raumfahrer | |
unterwegs gewesen, wie vorigen Herbst eine Ausstellung im Potsdamer | |
Filmmuseum zeigte. 1968 dann begab sich das Sandmännchen zu den Soldaten | |
der NVA. Und es war das Sigmund-Jähn-Jahr 1978, ab dem für volkseigene | |
Schüler der 9. und 10. Klassen der Wehrunterricht obligatorisch war: | |
Gasmaskentraining und Handgranatenweitwurf statt Höhenflug, dafür Flug in | |
den Staub inklusive. | |
12 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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