# taz.de -- 80. Geburtsag des Autors Lothar Trolle: Die Spiele der Macht verder… | |
> Der Dramatiker Lothar Trolle feiert seinen 80. Geburtstag. Corinna | |
> Harfouch und andere lesen an der Berliner Volksbühne aus seinen neuen | |
> Texten. | |
Bild: Wesentlicher Erneuerer der deutschsprachigen Dramatik: Lothar Trolle | |
„Spielverderber“, rufen zwei Kinder dem Kind zu, von dem Lothar Trolle in | |
„Das Zahlenmärchen“ erzählt: Es „nahm eines Tages 1 Stück Kreide und m… | |
auf das Straßenpflaster vor seiner Haustür 1 weißen Himmel aus weißen | |
Sternen, weißen Sonnen und weißen Wolken.“ | |
Was es da mache, wollen seine Altersgenossen wissen. Das Kind ignoriert die | |
Frage, wichtiger ist ihm, „daß es die Sonnen nicht größer malte als den | |
Himmel und die Sterne nicht kleiner als die Sonnen“. Es dauert nicht lange, | |
und aus den zwei erzürnten Kindern wird die ganze Straße und dann die | |
Stadt. Die Mehrheit spricht, zerbricht dem Kind die Kreide und zerstört die | |
Bilder, die mittlerweile ein ganzes Universum gebildet haben. Das Kind, das | |
sich mitteilen, aber nicht erklären wollte, bleibt weinend zurück. So | |
entsteht Gemeinschaft; eine, die von vornherein auf schlimmen Füßen steht. | |
Für das Theater und das Radio ist der Dramatiker und Hörspielautor Lothar | |
Trolle ein Spiel-Ermöglicher; der Macht, ihrer Sprache und ihren | |
Inszenierungen gegenüber ist er ein Spielverderber. Ein Beispiel: 1987 | |
wurde im Theater unterm Dach in Prenzlauer Berg, in dem ein Jahr zuvor | |
eingeweihten Wohngebiet am Thälmannpark – die Bühne befindet sich wie die | |
Galerie Parterre in einem der wenigen Relikte des gesprengten alten | |
Gaswerks – ein kurzes Stück Trolles aufgeführt, und wieder ist es kein | |
Erwachsener, der da spricht: | |
„Das Kind“, damals [1][gespielt von Corinna Harfouch,] geht durch eine | |
andere Neubau-Öde Ostberlins, die am Lichtenberger Tierpark, und fragt | |
sich: „Was stell ich nur an, / damit ich jetzt vor lauter Überdruß / mir | |
nicht selber an den Kragen gehe?“ „Wenn das Leben sich langweilt, ist der | |
Tod sein Zeitvertreib“, heißt es bei dem Surrealisten Jacques Prévert. | |
Das so altkluge wie böse Kind vermisst die Bombentrichter und | |
Luftschutzkeller des letzten Krieges. Die „Grenze zwischen Urwald und | |
Neubauviertel“ soll fallen, über die Bewohner, darunter ein Herr Müller mit | |
Aktentasche, fallen Krokodile, Löwen, Riesenschlange, Elefant und Eisbär | |
her. Das Kind möchte Geier sein. | |
## Ein wesentlicher Erneuerer | |
In der Generation nach einem anderen Müller, [2][der tatsächlich am | |
Tierpark wohnte,] Heiner Müller nämlich, „gilt Trolle (nicht nur in | |
Deutschland) mit Thomas Brasch und Einar Schleef als einer der wesentlichen | |
Erneuerer der deutschsprachigen Dramatik“, schreibt Jan Hein, Dramaturg, | |
Regisseur und Herausgeber, im Nachwort von „Heimatland“, des ersten Teils | |
einer mehrbändigen Reihe von nach 2006 entstandenen Texten, die der | |
Leipziger Verlag Spector Books aktuell veröffentlicht. | |
Heute, pünktlich zum 80. Geburtstag des Autors, lesen in der Volksbühne am | |
Rosa-Luxemburg-Platz Corinna Harfouch, Cristin König, Anna Müller und | |
andere. „Geschichtsunterricht“ heißt der zweite Band, und in den Titeln ist | |
enthalten, worum es bei Trolle, der auch als Übersetzer und Lyriker | |
arbeitet, nicht zuletzt geht: Heimat und Geschichte. Nur sollte man sich | |
das nicht so didaktisch vorstellen, wie das klingt. | |
Trolle kommt aus Brücken bei Sangerhausen, Landkreis Mansfeld-Südharz in | |
Sachsen-Anhalt. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution ging | |
in der Gegend der erlebnisorientierte [3][Kommunist Max Hoelz] um, der | |
seiner Partei zu radikal war, 1929 in die Sowjetunion übersiedelte und dort | |
1933 eines der frühen Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde. | |
Gut möglich, dass Trolle als Kind von Hoelz gehört hat: Trolle ist Sohn | |
eines kommunistischen, als Halbjude geltenden Vaters, der den Faschismus | |
bekämpft und nicht überlebt hat, und einer halbjüdischen Mutter, der er als | |
„rassisch minderwertig“ weggenommen wurde. Der Großvater übernahm die | |
Vormundschaft, es war das Kriegsende, welches dem Kind Trolle das Heim | |
ersparte. | |
## Kindheit und Renitenz | |
Vor Kurzem ist im Theater unterm Dach ein Stück Lothar Trolles angelaufen, | |
das die Themen Kindheit, Konfrontation mit der gesetzten Welt und Renitenz | |
bündelt: „Torsten“, in „Heimatland“ enthalten, basiert auf „Besessen… | |
Gefangen: Roman einer manisch-depressiven Erkrankung“, den Memoiren des | |
Hochstaplers Torsten Schmitt. | |
Der wächst auf im „Gesicht der Fabrik / Kein Urwald, der im Wind der | |
Jahreszeiten rauscht“, landet im DDR-Jugendheim, in dem sich die Insassen | |
selbst disziplinieren; er bricht aus, schläft in Abrisshäusern und | |
Kleingärten, wird verhaftet und flieht erneut. | |
Die Erzählung geht in die Wendezeit über, der Fremdenlegionär Torsten | |
jongliert mit Immobilien, Kreditkarten und Luxusgütern. Er tritt als | |
BND-Agent auf und gibt in einer aberwitzigen Volte der Geschichte vor, am | |
Ort seines alten Spezialkinderheims einen Nato-Gipfel auszurichten. | |
Das Theater Aggregate, das mit dem unterm Dach kooperiert, hat das Stück, | |
in das Trolle nicht umsonst Episoden aus dem Volksbuch vom „Ulenspiegel“ | |
montiert hat, minimalistisch und rasant umgesetzt. Zu den kargen Requisiten | |
gehören Kinogestühl und ein Tisch, wie er in einer Schule oder Amtsstube | |
stehen könnte. Die Bühnenmusik hat Bernd Jestram (Tarwater) komponiert, die | |
nächsten Aufführungen sind für den Mai geplant. | |
„Torsten“ kann als einer der „Wege aus der Ordnung“ gelesen werden, die | |
Trolle zusammen mit Uwe Kolbe und Bernd Wagner 1983 mit dem | |
Literaturmagazin Mikado oder der Kaiser ist nackt eröffneten, einer der | |
ersten Zeitschriften, die in der DDR ohne Genehmigung im Selbstverlag | |
erschienen. Daran zu erinnern, ist kein Freibrief für den Neoliberalismus. | |
22 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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