# taz.de -- Quote für Migrant:innen: Eine Frage der Teilhabe | |
> Im öffentlichen Dienst arbeiten kaum Menschen mit Migrationshintergrund. | |
> Sie bewerben sich nur selten, werden aber immer noch oft stigmatisiert. | |
Bild: Knapp 5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im öffentlichen Dienst | |
Berlin wollte einen Sprung machen. Die Linkspartei peilte für den | |
öffentlichen Dienst eine Quote an, damit sich die Vielfalt der Stadt auch | |
in ihrer Verwaltung widerspiegelt. Mehr als ein Drittel aller | |
Berliner:innen haben ausländische Wurzeln oder Migrationsbiografien. Im | |
öffentlichen Dienst der Hauptstadt liegt ihr Anteil aber nur bei | |
schätzungsweise 12 Prozent. Die Linken-Senatorin für Integration, Arbeit | |
und Soziales, Elke Breitenbach, wollte für diese Gruppe eine Quote von 35 | |
Prozent festschreiben, die auch für Landesbetriebe, Gerichte und | |
Staatsanwaltschaften gelten sollte. Doch die SPD sperrte sich dagegen. | |
Manche fürchten, die Forderung würde die Gesellschaft spalten. | |
Das Gegenteil ist der Fall: Eine Quote für den öffentlichen Dienst würde | |
dazu beitragen, die Spaltung unserer Gesellschaft zu überwinden. Knapp 5 | |
Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im öffentlichen Dienst. Er ist | |
damit einer der größten Arbeitgeber des Landes und hat eine | |
Vorbildfunktion. Seine Mitarbeiter:innen repräsentieren für viele | |
Menschen den deutschen Staat. Doch obwohl gerade der öffentliche Dienst | |
sehr viel mit Menschen mit Migrationsgeschichte zu tun hat – in | |
Schulbehörden, Bezirksverwaltungen, Arbeitsagenturen oder KfZ-Meldestellen | |
–, sind Menschen mit Migrationsgeschichte hier besonders selten | |
beschäftigt. Der sogenannte Diversität- und Chancengleichheit-Survey im | |
Auftrag der Bundesregierung zeigte, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln | |
auch in der Bundesverwaltung deutlich unterrepräsentiert sind. In den | |
Behörden sind sie überdurchschnittlich oft nur befristet eingestellt und | |
oft überqualifiziert, sie werden seltener befördert und sind in | |
Führungspositionen kaum vertreten. | |
Dabei haben 22 Prozent aller Menschen im arbeitsfähigen Alter einen | |
Migrationshintergrund. Bei schulpflichtigen Kindern sind es rund 40 Prozent | |
– in Großstädten noch mehr. Es ist überfällig, dass sie sich angemessen in | |
den Strukturen dieses Landes wiederfinden. Sie würden sich stärker mit dem | |
Staat identifizieren. Gleichzeitig würden Stereotype abgebaut und gezeigt, | |
wie vielfältig Deutschland heute ist. Dafür braucht es eine Quote. Von | |
allein ändern sich Strukturen kaum. Das wissen wir aus den | |
[1][Elitenstudien zu Ostdeutschen, wo sich seit 25 Jahren nichts an der | |
Repräsentation in den Spitzen verändert hat]. Dass Menschen mit | |
Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst unterrepräsentiert sind, hat | |
viele Gründe. Zum Teil mangelt es an Bewerbungen, an Kenntnissen der | |
deutschen Sprache, an der fehlenden Anerkennung ausländischer | |
Qualifikationen. [2][Diverse Studien zeigen aber auch, dass | |
Bewerber:innen mit „ausländisch“ klingenden Namen bei gleicher | |
Qualifikation benachteiligt werden]. | |
In einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- | |
und Migrationsforschung (DeZIM) im Jahr 2019 sprach sich fast ein Drittel | |
der Bevölkerung in Deutschland für Quoten aus. Doch diese Forderung wird | |
derzeit von keiner politischen Partei aufgegriffen – außer jetzt erstmals | |
von der Linkspartei in Berlin. Dabei wäre gerade die SPD berufen, aktiv zu | |
werden. Wenn manche Menschen im öffentlichen Dienst systematisch seltener | |
eingestellt werden, dann widerspricht das Artikel 3 des Grundgesetzes. Das | |
darf die SPD, bei der die Sehnsucht nach Gleichheit zur DNA gehört, nicht | |
akzeptieren. | |
## Quotierung auf Zeit | |
[3][Menschen mit Migrationshintergrund haben sich in der Coronakrise als | |
„systemrelevant“ erwiesen: als Ärzt:innen und Pflegekräfte, als | |
Paketzustellende oder als Erfinder:innen von Impfstoff]. Dennoch werden | |
sie im Durchschnitt schlechter bezahlt, sind häufiger prekär beschäftigt, | |
haben weniger an politischen Entscheidungen teil und werden häufiger | |
pauschal abgewertet. Sich um Vielfalt und Diversität sowie um gerechte und | |
gut bezahlte Arbeit für alle zu bemühen, gehört zusammen. Folgerichtig | |
haben 20 Berliner Gewerkschafter und Betriebsräte die SPD in einem | |
[4][offenen Brief] aufgefordert, den Weg für die weiche Quote freizumachen. | |
Warum die SPD offensiv für eine Frauenquote kämpft, aber eine Quote für | |
Menschen mit Migrationshintergrund vehement ablehnt, ist nicht | |
nachvollziehbar. | |
Eine Politik der Anerkennung von Vielfalt und der gerechten Teilhabe sollte | |
man nicht als Befindlichkeit oder [5][„Identitätspolitik“ stigmatisieren]. | |
Sie bietet sich auch aus strategischen Gründen an. Mehr als zehn Prozent | |
der 60 Millionen Wähler:innen haben einen Migrationshintergrund. Diese | |
Zahl wird weiter wachsen. Um diese Wähler:innen müssen alle Parteien | |
glaubwürdig werben. Das konnte man jüngst bei der Oberbürgermeister-Wahl in | |
Hannover beobachten, die der Grüne [6][Belit Onay] gewann, den die Mehrheit | |
der Hannoveraner:innen als qualifiziert empfand, um ihre | |
internationale Stadt zu regieren und zu repräsentieren. | |
Es stimmt, dass eine Quote auch zu neuen Ungleichheiten führen kann. | |
[7][Eine Frauenquote an Universitäten kann beispielsweise Jungen aus | |
Arbeiterfamilien gegenüber Mädchen aus bildungsbürgerlichen Haushalten | |
benachteiligen.] Aber gesellschaftspolitisch dient die Quote auch dem Ziel, | |
soziale Gruppen teilhaben zu lassen, die aufgrund von rassistischen | |
Ressentiments benachteiligt werden. Strukturelle Ungleichheiten, die teils | |
Jahrhunderte alt sind, lassen sich nicht kurzfristig ausgleichen. | |
[8][Frauen, Migranten], [9][Ostdeutsche], Arbeiter können und wollen aber | |
auch nicht weitere Jahrzehnte warten, bis sich ihre soziale Position | |
irgendwann verbessert. Deswegen braucht es eine Phase des Ausgleichs | |
fortwirkender Ungleichheiten. Das ist eine politische Aufgabe. | |
Eine Quotierung auf Zeit kann eine angemessene Antwort sein. Das kann dazu | |
beitragen, Abstiegs- und Verlustängsten anderer Gruppen – und | |
gesellschaftlichen Spaltungen – entgegenzuwirken. Ist eine Quote erst | |
einmal eingeführt, werden sich viele aufgeregte Debatten schnell wieder | |
legen. Den gesellschaftlichen Frieden würde sie befördern. | |
23 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://dezim-institut.de/fileadmin/user_upload/Projekte/Eliten/ResearchNot… | |
[2] https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2018/vi18-104.pdf | |
[3] https://dezim-institut.de/fileadmin/Publikationen/Research_Notes/DRN_3_Syst… | |
[4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/debatte-um-migrantenquote-20-betriebsrae… | |
[5] /Linksliberale-und-Identitaetspolitik/!5652406 | |
[6] /Buergermeister-Wahl-in-Hannover/!5637419 | |
[7] https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/soziale-herkunft-als-die-ve… | |
[8] https://irre.taz.de/exec/inputmask.pl?sid=ff551207ce444a5429feb53f202e9676&… | |
[9] /Migrationsforscherin-ueber-Ostdeutsche/!5582157 | |
## AUTOREN | |
Naika Foroutan | |
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