| # taz.de -- Regisseur über „Neues aus der Welt“: „Dem Hass entgegegenwir… | |
| > Der Film „Neues aus der Welt“ von Paul Greengrass erinnert an Western. | |
| > Warum er dieses Genre für aktuell hält und wie er auf Helena Zengel | |
| > stieß. | |
| Bild: Johanna (Helena Zengel) und Captain Kidd (Tom Hanks) auf der gemeinsamen … | |
| Ein fast klassischer Western über einen Veteranen, der kurz nach dem | |
| US-amerikanischen Bürgerkrieg ein zehnjähriges Mädchen auf der Suche nach | |
| ihren Verwandten begleitet, erzählt erstaunlich progressiv und deutlich von | |
| relevanten Themen wie Flucht und Identität. „Neues aus der Welt“ mit Tom | |
| Hanks und der jungen Berlinerin Helena Zengel („Systemsprenger“) sollte | |
| ursprünglich im Kino laufen. Die Pläne fielen der Pandemie zum Opfer, und | |
| so sind die epischen Bilder jetzt weltweit auf Netflix zu sehen. Den | |
| Lockdown verbringt Regisseur Paul Greengrass selbst zurück in seiner | |
| britischen Heimat, das Gespräch führte der 65-jährige Filmemacher, ganz | |
| alte Schule, am Festnetztelefon. | |
| taz: Herr Greengrass, nach drei „Bourne“-Actionfilmen und zuletzt dem Drama | |
| „22. Juli“ über die Anschläge des norwegischen Neonazis Anders Behring | |
| Breivik von 2011 ist ein amerikanisches Westerndrama Neuland für Sie. Was | |
| hat Sie daran gereizt? | |
| Paul Greengrass: Zunächst einmal genau das: Ich wollte etwas Neues | |
| ausprobieren, mich herausfordern. Aber der wichtigste Grund war sicher die | |
| Erfahrung mit [1][meinem letzten Film, „22. Juli“]. Ich hatte viel darüber | |
| nachgedacht, wie wir als Gesellschaft aus diesem Teufelskreis von | |
| Polarisierung, Verbitterung und Hass wieder herauskommen. Der Anstieg des | |
| Rechtsextremismus in weiten Teilen Europas und in Amerika ist ein Problem, | |
| das uns wahrscheinlich die nächsten 20 Jahre beschäftigen wird. Das war | |
| eine grundsätzliche Auseinandersetzung, ich dachte noch gar nicht daran, | |
| das filmisch umzusetzen. Bis ich dann eines Tages auf den Roman von | |
| Paulette Jiles stieß. | |
| Das im Jahr 2016 erschienene und bislang nicht übersetzte Buch „News of the | |
| World“ erzählt von einem alten Bürgerkriegsveteranen, der fünf Jahre nach | |
| Kriegsende in Texas durch Kleinstädte zieht und den Bewohnern Nachrichten | |
| aus Zeitungen vorliest, eine Art Ein-Mann-Presseschau. Was hatte das in | |
| Ihren Augen mit heute zu tun? | |
| Auch wenn es in der Zeit vor 150 Jahren angesiedelt ist, erkannte ich | |
| sofort Parallelen zu unserer Gegenwart. Das Land ist tief gespalten | |
| zwischen den Nord- und Südstaaten, die sich verbittert gegenüberstehen. Es | |
| gibt Fluchtbewegungen, es gibt Rassismus und Falschinformationen, die | |
| Vorurteile und Feindseligkeiten schüren. Und Jiles erzählt die Geschichte | |
| eines liberalen Aufklärers, der unermüdlich im Kleinen der Angst und dem | |
| Hass in der Bevölkerung entgegenzuwirken versucht. Ich habe bei der | |
| Adaption des Drehbuchs die Verbindungen zur heutigen Situation noch | |
| verdeutlicht. | |
| So unterschiedlich Ihre Filme sind, verhandeln Sie doch immer wieder | |
| politische und gesellschaftliche Themen. Wollen Sie mit „Neues aus der | |
| Welt“ etwas bewirken? | |
| Mir hat gefallen, dass dieser Captain Kidd ein Geschichtenerzähler und ein | |
| Journalist ist, der Nachrichten auswählt und verbreitet. Ein Beruf, der | |
| gerade wieder sehr attackiert wird, weil Fakten und Wahrheiten oft nicht | |
| mehr akzeptiert werden. Mir gefiel die Vorstellung, dass | |
| Geschichtenerzählen etwas Heilendes sein kann, eine im besten Sinne | |
| kollektive Erfahrung, die Menschen einander näherbringt. Wenn mir Menschen | |
| zwei Stunden ihrer Aufmerksamkeit schenken, habe ich die Verantwortung, sie | |
| mit einer packenden Geschichte und interessanten Figuren zu belohnen. Wenn | |
| ich sie nebenbei zum Nachdenken bringe, umso besser, aber Film ist kein | |
| Überbringer von Botschaften. Die Kraft des Kinos besteht für mich darin, in | |
| fremde Leben einzutauchen und zu fragen, wer wir sind und wie wir | |
| zusammenleben wollen. | |
| Sie hatten bereits früher die Filme des großen Westernregisseurs John Ford | |
| studiert. Welchen Einfluss hatten sie auf Ihren eigenen Ausflug in das | |
| Genre? | |
| Ich musste vor allem an „Der schwarze Falke“ denken, in dem John Wayne ein | |
| von Komantschen verschlepptes Mädchen befreit und zurück zu den Weißen | |
| bringt. Aber wenn man einen Western macht, tritt man natürlich immer in | |
| Fords Fußstapfen. Er ist einer der großen Meister und Architekten des | |
| klassischen Hollywoodkinos, auch wenn Western etwas aus der Mode geraten zu | |
| sein scheinen. | |
| Auch Ihr Film ist fast klassisch inszeniert, transportiert dabei aber | |
| progressive Themen wie Presse- und Meinungsfreiheit, mitmenschlicher | |
| Respekt und die Suche nach der eigenen Identität jenseits biologistischer | |
| Determinierung. | |
| Stimmt, bei uns verläuft die Geschichte anders. Der alte Captain bringt die | |
| zehnjährige Waise Johanna, die nach dem Mord an ihren Eltern von einem | |
| indigenen Stamm aufgezogen wurde, bis auch dieser einem rassistischen | |
| Überfall zum Opfer fiel, zu entfernten Verwandten. Doch die deutschstämmige | |
| Familie ihrer unbekannten Tante erweist sich letztlich nicht als Zuhause | |
| und Johanna muss ihre eigene Identität finden. | |
| Gespielt wird dieses Mädchen von der Berlinerin Helena Zengel, die vor zwei | |
| Jahren als renitentes Kind in „Systemsprenger“ auf sich aufmerksam machte. | |
| Nun steht sie in ihrer zweiten großen Rolle gleich in einer US-Produktion | |
| neben Tom Hanks vor der Kamera. Warum ausgerechnet sie? | |
| Wenn Sie mich vor dem Dreh nach der größten Herausforderung gefragt hätten, | |
| wäre die Besetzung des Mädchens ganz oben gestanden. Sie ist eine der | |
| beiden Hauptfiguren, die den Film mitträgt, und zugleich ein Kind unter | |
| Erwachsenen, das deren Sprache nicht spricht. Sie hat kaum Dialog und muss | |
| jede Emotion rein über ihr Spiel ausdrücken. Ich dachte, die Suche würde | |
| eine Ewigkeit dauern und uns viel Kopfschmerzen bereiten. Wie viele | |
| Schauspielerinnen im Alter von zehn, elf gibt es schon, die eine solche | |
| Rolle stemmen könnten? Doch dann hörte ich von [2][„Systemsprenger“, und | |
| als ich dann Helena in dem Film] sah, wusste ich sofort, dass sie die | |
| richtige ist. Sie spielt sehr instinktiv und natürlich. Dass sie wie | |
| Johanna Deutsch spricht, war ein weiterer Pluspunkt, aber gar nicht so | |
| ausschlaggebend. | |
| Im Texas des 19. Jahrhunderts lebten Tausende deutsche Einwanderer. | |
| Inwieweit war dieser historische Migrationshintergrund bereits im Roman? | |
| Einiges war bereits im Buch, anderes recherchierten wir. Deutsche | |
| migrierten damals nach Amerika und vor allem Texas, weil es günstiges Land | |
| zu kaufen gab. Viele Städtenamen wie Fredericksburg und Neu Braunfels | |
| zeugen heute noch davon. Unter den Älteren gibt es vereinzelt auch noch | |
| einen Dialekt, das Texasdeutsch. | |
| Sie zeigen Amerika als multiethnischen Schmelztiegel, in dem mehr als nur | |
| eine Sprache gesprochen wurde. Das ist zumindest im Westerngenre | |
| ungewöhnlich. | |
| Schmelztiegel oder Kollision, es ging dabei ja selten friedlich zu. | |
| Deutsche, Engländer und Iren aus Europa trafen auf Mexikaner und indigene | |
| Völker wie die Kiowa. Und alle hatten ihre eigene Sprache, ihre eigene | |
| Kultur. Der Western ist ein mythisches Genre über Identitätssuche und ich | |
| wollte in meinem Film das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ethnien | |
| widerspiegeln, das sehr viel komplexer und unübersichtlicher ist als meist | |
| dargestellt. Es soll auch daran erinnern, wie die Besiedelung des Westens | |
| auf Kosten der Ureinwohner ging. Die Ausbreitung war ein Raubzug, bei dem | |
| sich riesige Bevölkerungsgruppen verschoben, manche freiwillig, viele | |
| mussten fliehen. Diese Migrationsbewegungen gibt es aus unterschiedlichen | |
| Gründen weltweit bis heute und damit auch die Frage nach Identität. Was | |
| prägt einen Menschen? Was passiert, wenn man in ein anderes Land kommt und | |
| die eigene Identität mit der anderer zusammentrifft? | |
| Der Film sollte ursprünglich im Kino laufen und ist nun wegen der | |
| anhaltenden Pandemie weltweit auf Netflix verfügbar. Gerade bei einem auf | |
| weiten Landschaftspanoramen angelegten Film muss das schmerzhaft sein. | |
| Es ist natürlich schade, dass der Film nicht auf der Kinoleinwand gesehen | |
| werden kann, dafür habe ich ihn gemacht, dort sieht er großartig aus und so | |
| sollte das Publikum ihn erleben. Dass dies nun nicht möglich ist, macht | |
| mich sehr traurig, keine Frage. Aber wir haben viel darüber gesprochen und | |
| die Lösung mit Netflix ist die beste unter diesen Umständen, weil wir den | |
| Film jetzt herausbringen und nicht erst auf das ungewisse Ende der Pandemie | |
| warten wollten. | |
| 10 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Abeltshauser | |
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