| # taz.de -- Iran und der Westen: Ewiger Gegenspieler | |
| > Doppelte Standards, Moral und Menschenrechte: Warum es so schwerfällt, | |
| > einen progressiven und postkolonialen Blick auf Iran zu entwickeln. | |
| Bild: Der letzte Schah hat einmal geäußert, sein Land gehöre zu Europa, sei … | |
| Das öffentliche Gespräch über Iran ist von bescheidener Qualität. Nur eine | |
| kleine Schar professionell Kundiger versteht wirklich etwas von der Politik | |
| und der Machtstruktur der Islamischen Republik; wenn dieses Wissen nicht | |
| explizit in den Dienst moralischer Verurteilung gestellt wird, gerät es | |
| leicht unter Verdacht: Relativierung eines Unrechtssystems! | |
| Auf Iran wird fast ausschließlich aus der sicherheits- und geopolitischen | |
| Perspektive des Westens geblickt, in der Regel auch bei jenen, die sich | |
| vonseiten der deutsch-iranischen Community äußern. Auf der Hand liegt das | |
| keineswegs, denn in Iran spiegelt sich das Scheitern westlicher Politik | |
| ebenso wie Veränderungen der globalen Ordnung. Die Islamische Republik hat | |
| 40 Jahre Sanktionen überstanden, nun gar noch [1][Trump]. | |
| Die Erdöleinnahmen sind eingebrochen, die Bevölkerung leidet, dennoch blieb | |
| maximum pressure im Kern wirkungslos: kein Zugeständnis in der | |
| Regionalpolitik, keine Rakete abgerüstet, und der Atombombenbau eher näher | |
| gerückt. Während der hiesige Irandiskurs oft den Eindruck erweckt, wir | |
| lebten noch in der Welt von 1979, reagiert Teheran flexibel auf den Wandel | |
| der globalen Kräfteverhältnisse. | |
| Zuletzt hat die Enttäuschung über ein Europa, das Trumps Sanktionen nichts | |
| entgegenzusetzen hatte, die Hinwendung Richtung Osten verstärkt. China, | |
| Indien und Russland erkennen die Islamische Republik, anders als der | |
| Westen, als Regionalmacht an und räumen ihr geopolitisch einen Platz ein. | |
| „Teheran sieht in östlichen Partnern das größte Potenzial, um vom Westen | |
| unabhängige Ordnungsstrukturen zu schaffen“, schreibt [2][Azadeh Zamirirad] | |
| in einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik. | |
| ## Teheran orientiert sich Richtung Osten | |
| Der letzte Schah hat einmal geäußert, sein Land gehöre eigentlich zu | |
| Europa, sei geografisch nur quasi verrutscht. Europa verortet Iran wiederum | |
| stoisch im sogenannten Nahen Osten, seinem angestammten Einflussbereich | |
| seit der Kolonialzeit. Die Islamische Republik bezeichnet sich hingegen als | |
| Teil Westasiens und hat sich in den letzten Jahren ein wenig mehr | |
| asiatisiert. | |
| Irans turbulente Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert bietet reichlich | |
| Stoff, um zumindest versuchsweise eine progressive und postkoloniale | |
| Perspektive auf das Land zu entwickeln – doch kann es sie zweifellos nicht | |
| geben ohne Berücksichtigung der mit Füßen getretenen Bürgerrechte. Kein | |
| Plädoyer also für einen vorgestrigen Antiimperialismus! Aber bedingt das | |
| menschenrechtliche Anliegen, dass das enge Gehäuse westlicher Weltsicht der | |
| einzig adäquate Denkort ist? | |
| Vergleichen wir einen Moment Iran und Ägypten: Die Regierung von [3][Abdel | |
| Fattah al-Sisi] hält etwa 60.000 politische Gefangene in ihrer Gewalt. | |
| Hinrichtungen ohne Wissen der Angehörigen, Folter, willkürliche | |
| Haftverlängerung – was aus Iran bekannt ist, findet sich gleichfalls in | |
| Ägypten. Doch mit Kairo unterhält der Westen eine sogenannte strategische | |
| Partnerschaft, man teilt einen gemeinsamen Begriff von „Stabilität“, und | |
| Emmanuel Macron verlieh al-Sisi dafür kürzlich das Großkreuz der | |
| Ehrenlegion. | |
| [4][Joe Biden], über den es nun heißt, er verstehe den Westen wieder als | |
| Wertebündnis, war ein vehementer Unterstützer der desaströsen Irakinvasion. | |
| Eines Kriegs mit Hunderttausenden zivilen Opfern, der Iran überhaupt erst | |
| zu seiner jetzigen regionalen Machtposition verhalf. Biden definiert | |
| amerikanische Interessen anders als Trump: Er folgert aus dem globalen | |
| Abstieg der USA, dass er für die Konfrontation mit China Bündnispartner | |
| braucht. | |
| ## Biden trieb die Irakinvasion mit voran | |
| Erstaunlich, wie nun bis in die Grünen hinein die Illusion eines aus | |
| moralischem Antrieb handelnden Westens Wiederauferstehung feiert. Der | |
| Bundesregierung wird von deutsch-iranischer Seite des Öfteren vorgehalten, | |
| sie sei in Menschenrechtsbelangen gegenüber Teheran ganz besonders untätig. | |
| Der Vorwurf relativiert sich angesichts der engen deutschen Beziehungen zur | |
| ägyptischen Diktatur. Und auch in China ist Siemens wichtiger als es die | |
| Uiguren sind. | |
| Dennoch ist es hilfreich, die These vom Exzeptionalismus näher zu | |
| betrachten. Die Vorstellung, die iranische Zivilisation sei besonders | |
| hochstehend, ist in Iran täglich Brot, unter Systemanhängern wie -gegnern. | |
| Bei manchen Exilierten wird daraus die Überzeugung, in der Islamischen | |
| Republik werde ein exzeptionell wertvolles Volk von einer exzeptionell | |
| miesen Herrscherclique gedemütigt. | |
| Da ist die Grenze zum Rassismus verwaschen, keineswegs nur bei | |
| Deutsch-Iranern; auch im mehrheitsdeutschen Bürgertum zählt das Leid eines | |
| edlen „Persers“ mehr als das eines Ägypters. Ohne nationalistischen Dünkel | |
| fiele es indes womöglich leichter, sich einem Thema zu nähern, das wie ein | |
| steinerner Gast im Raum steht: Warum den Iranern über so lange Zeit nie | |
| eine nachhaltige Opposition gelang. Woran Iran also messen? | |
| Es ist nicht nur so, dass darauf keine Antwort verfügbar ist, sondern die | |
| Frage scheint intellektuell verzichtbar. Weil das westliche Framing der | |
| Zeitgeschichte als unverrückbarer Rahmen akzeptiert wird. Teheran als | |
| Sonderfall, als ewiger Gegenspieler; es war im Drehbuch der bisherigen | |
| Weltordnung nicht vorgesehen, dass ein Staat, ein System in Konfrontation | |
| zum Westen vier Jahrzehnte überlebt. | |
| Es verringert keineswegs das Gewicht der schlimmen Repression in Iran, wenn | |
| man konstatiert: Was dort geschieht, wird immer anders bewertet als in | |
| einem Land, das sich westlichen Interessen fügt. Das ungewisse Schicksal | |
| des Nuklearabkommens ist dafür das jüngste Beispiel: Dass Teheran von den | |
| USA, die [5][den Vertrag] als erste brachen, das erste Signal zur Rückkehr | |
| erwartet, ist nachvollziehbar. Amerika schuldet Iran etwas, nicht | |
| umgekehrt. | |
| Aber schon ruft es von den Rängen: Appeasement! Die Iraner und Iranerinnen | |
| werden seit Jahrzehnten in Geiselhaft für die Politik ihrer Führung | |
| gehalten. Wie es aussieht, wird Werte-Joe das noch ein wenig verlängern. | |
| 11 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Atomabkommen-mit-Iran/!5589921 | |
| [2] /Iran-Expertin-ueber-das-Nuklearabkommen/!5738565 | |
| [3] /Aktivistinnen-ueber-aegyptische-Revolution/!5737502 | |
| [4] /US-Praesident-Joe-Biden-zur-Aussenpolitik/!5749270 | |
| [5] /Neues-Atomgesetz-im-Iran/!5734738 | |
| ## AUTOREN | |
| Charlotte Wiedemann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Iran | |
| Schwerpunkt Konflikt zwischen USA und Iran | |
| Teheran | |
| G5-Auflagen | |
| Joe Biden | |
| No-Deal | |
| Menschenrechte | |
| Schlagloch | |
| Schwerpunkt Iran | |
| US-Army | |
| Schwerpunkt Iran | |
| USA | |
| Schwerpunkt Iran | |
| Schwerpunkt Konflikt zwischen USA und Iran | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Präsidentschaftswahlen in Iran: Aussichtsreicher Kandidat abgelehnt | |
| Der iranische Politiker Ali Laridschani war Revolutionsgardist und | |
| Atomabkommen-Verhandler. Doch der Wächterrat hat ihn für die Wahl nicht | |
| zugelassen. | |
| Außenpolitische Rede des US-Präsidenten: Bidens beredtes Schweigen | |
| Joe Biden hat in seiner ersten außenpolitischen Rede einige der wichtigsten | |
| US-Konfliktherde mit keinem Wort erwähnt. Das lässt nichts Gutes ahnen. | |
| Urteil gegen iranischen Diplomaten: 20 Jahre Haft wegen Terrorplänen | |
| Der Iraner Assadollah A. wurde als Drahtzieher eines vereitelten | |
| Terroranschlags verurteilt. Empörung in Teheran ist programmiert. | |
| US-Regierung und der Iran-Deal: Alte Gesichter, neue Weltlage | |
| Joe Biden hat Robert Malley zum US-Beauftragten für Iran gemacht. Kehren | |
| die USA zum Atomabkommen zurück oder wollen sie einen neuen Deal? | |
| Iran-Expertin über das Nuklearabkommen: „Die Chance einer Umsetzung“ | |
| Azadeh Zamirirad glaubt, dass mit Joe Biden eine Rückkehr zur Vereinbarung | |
| mit Teheran möglich ist – auch wenn die gerade wieder gebrochen wurde. | |
| Vor Amtsantritt Joe Bidens: Iran trotzt Wiener Abkommen | |
| Ein weiterer Verstoß gegen die Zusagen im Atomdeal: Eigenen Angaben zufolge | |
| hat Iran mit der Anreicherung von Uran auf bis zu 20 Prozent begonnen. |