# taz.de -- Streit vor EU-Gipfel: Merkel muss um ihre Bilanz bangen | |
> Auf dem letzten EU-Gipfel unter deutschem Vorsitz droht viel Ärger. Beim | |
> Haushaltsstreit mit Polen und Ungarn scheint jedoch ein Kompromiss in | |
> Sicht. | |
Bild: Angela Merkel beim EU-Gipfel im Oktober | |
BRÜSSEL taz | Angela Merkel hat schon viele EU-Gipfel erlebt – mehr als | |
jeder andere aktive Europapolitiker. Doch wenn die Bundeskanzlerin am | |
Donnerstag zum letzten regulären europäischen Spitzentreffen dieses Jahres | |
nach Brüssel kommt, dürfte nicht einmal sie wissen, wie es ausgeht. | |
In allen wichtigen Fragen – Brexit, EU-Budget, Türkei und Klimapolitik – | |
gibt es Streit. Kurz vor dem Ende [1][der deutschen Ratspräsidentschaft] | |
muss Merkel um ihre Bilanz bangen. „Vieles konnte nicht umgesetzt werden, | |
das ist schade“, sagte sie am Mittwoch in Berlin. | |
Gute Nachrichten gibt es nur aus den USA. Seit der Wahl von Joe Biden zum | |
Präsidenten hat ein transatlantisches Tauwetter eingesetzt. Im | |
Gipfelentwurf wird Biden begrüßt. Gemeinsam wolle man den Kampf gegen | |
Corona und den Klimawandel angehen, heißt es. | |
Eine Leerstelle findet sich im Abschnitt zur Türkei. Präsident Erdoğan habe | |
die ausgestreckte Hand der EU nicht angenommen und mit seinen Gasbohrungen | |
im östlichen Mittelmeer weiter provoziert, erklärte Außenminister Heiko | |
Maas am Montag in Brüssel. | |
Doch ob Erdoğan dafür bestraft werden soll, ist noch offen. Deutschland | |
steht, mit Spanien und Italien, auf der Bremse. Allenfalls könnten einzelne | |
Personen und Firmen auf einer 2019 eingeführten Sanktionsliste landen. | |
Die Europaabgeordnete Özlem Demirel von den Linken sieht das mit großer | |
Sorge. „Konsequent und glaubwürdig wäre ein Stopp aller Waffenexporte an | |
das Erdoğan-Regime“, sagte sie der taz. „Stattdessen dürfte es allenfalls | |
kleinere beziehungsweise symbolische Maßnahmen geben.“ | |
Gedämpft sind auch die Erwartungen beim Brexit und dem geplanten | |
Folgeabkommen für den Handel. Am Mittwochabend war ein Dinner zwischen dem | |
britischen Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von | |
der Leyen in Brüssel geplant. Das weckte Hoffnungen. | |
Merkel zeigte sich aber skeptisch. „Ich glaube nicht, dass wir morgen (am | |
Donnerstag; Anm. der Red.) wissen, ob das gelingt oder nicht“, sagte sie | |
vor dem Treffen. In den drei großen Streitfragen – Fischerei, fairer Handel | |
und Streitschlichtung – gab es zuletzt kaum Bewegung. | |
## Finanzpaket in Gefahr | |
Theoretisch bleibt noch Zeit bis zum 31. Dezember – genau wie beim dritten | |
Streitthema, dem Geld. [2][Ungarn und Polen haben ein Veto gegen das neue | |
EU-Budget und den Corona-Aufbaufonds eingelegt], weil sie die Bindung von | |
Finanzhilfen an die Rechtsstaatlichkeit ablehnen. Damit droht das Kernstück | |
der deutschen Ratspräsidentschaft, das 1,8 Billionen Euro schwere | |
Finanzpaket, zu platzen. | |
„Merkel hat nach dem erfolgreichen EU-Gipfel im Juli eine Reihe von Fehlern | |
gemacht“, sagt der grüne Europapolitiker und Budgetexperte Rasmus Andresen. | |
„Das kann sich nun rächen. Mit diesem Gipfel steht und fällt ihre | |
Ratspräsidentschaft.“ Auf keinen Fall dürfe die Kanzlerin auf die | |
„Erpressungsversuche“ des ungarischen Premiers Viktor Orbán eingehen und | |
die Rechtsstaatsklausel aufweichen. | |
Genau das könnte geschehen. Es gebe eine Einigung mit Deutschland, sagte | |
Polens Vize-Regierungschef Jarosław Gowin am Mittwoch in Warschau. Die | |
Meinungsverschiedenheiten seien „praktisch verschwunden“. Der deutsche | |
EU-Vorsitz forderte die Botschafter der anderen Mitgliedstaaten auf, „sich | |
am späteren Nachmittag für ein Treffen bereitzuhalten“. | |
Bei diesem Krisentreffen sollte offenbar ausgelotet werden, ob der | |
Kompromiss auf Zustimmung stößt. Wie die Einigung aussieht, blieb offen. | |
Zuletzt war in EU-Kreisen viel von einer zusätzlichen Erklärung die Rede, | |
in der die EU-Staaten garantieren könnten, dass die Rechtsstaatsklausel | |
nicht sachfremd eingesetzt wird, etwa in der Flüchtlingsfrage. | |
## Rigorose Migrationspolitik | |
Orbán war zuvor mit der unbelegten Behauptung hausieren gegangen, die EU | |
wolle ihn wegen seiner rigorosen Migrationspolitik abstrafen. Zudem hat er | |
mit einer Klage vor dem höchsten EU-Gericht gedroht. Merkel hatte zu all | |
dem geschwiegen. | |
Kritik gibt es auch am Kurs des deutschen EU-Vorsitzes in der Klimapolitik. | |
Der Gipfelentwurf sieht zwar ein Bekenntnis zu einem schärferen Klimaziel | |
für 2030 vor. Die Treibhausgase sollen um mindestens 55 Prozent verringert | |
werden, heißt es. Doch dieses Ziel soll nur kollektiv gelten. Zudem fordern | |
mehrere Staaten, die Atomkraft als ein Mittel des Klimaschutzes | |
anzuerkennen. Auch in dieser Frage droht Streit beim Gipfel in Brüssel. | |
10 Dec 2020 | |
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[1] /Europaeische-Union-im-Jahr-2020/!5731272 | |
[2] /Streit-um-Rechtsstaatlichkeit-in-EU/!5731757 | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
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