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# taz.de -- Musiklabel für iranischen Underground: Alles außer Heimat
> Das Hamburger Plattenlabel 30M Records vertreibt experimentelle Musik aus
> dem Iran. Mit „Raaz“ ist gerade das erstes Album erschienen.
Bild: Traditionelle Musiker aus Belutschistan bei den Aufnahmen für das Album …
Die Weltmusik-Szene ist ihm unsympathisch, mit Ethno-Pop kann er nichts
anfangen und mit Folk angereicherten Jazzrock will er schon mal gar nicht:
Für einen auf iranische Gegenwartsmusik spezialisierten Labelchef klingt
Matthias Koch bemerkenswert entschieden. Herausbringen möchte er eine
Musik, die auf dem internationalen Markt bisher nicht stattfand: einen
urbanen, jungen Sound aus Teheran, der statt bloßem Zitieren tatsächlich
arbeitet mit dem reichen Fundus traditioneller iranischer Musik. „Tradition
mit Moderne“, sagt Koch, „ohne dass es cheesy wird.“
Dafür hat der Hamburger [1][das Label 30M Records] gegründet, benannt nach
einer persischen Sage über 30 Vögel, die auf der Suche nach ihrem König
Simorgh zu sich selbst finden. Das erste Album, [2][„Raaz“], ist gerade
erst erschienen, war allerdings eine Premiere mit langer Vorgeschichte.
Matthias Koch arbeitet seit über 20 Jahren im Musikgeschäft, bei Labels wie
PIAS, Naïve oder Epitaph Records. Beim Reeperbahn-Festival hat er die
Klassik-Pop-Sparte entwickelt.
Auf einer Iranreise hat er im vergangenen Jahr die ersten Künstler für sein
Label entdeckt: Hooshyar Khayam ist klassisch ausgebildeter Musiker,
komponiert und spielt Klavier. Bamdad Afshar hingegen kommt aus der
Electro-Szene, sampelt, programmiert und lässt seine Stücke auch mal von
Roboterhänden einspielen. Für „Raaz“ haben sie gemeinsam die traditionelle
Musik Belutschistans erkundet, der südöstlichen Provinz des Landes.
Das Projekt hat auch im Iran Seltenheitswert: Die Musik der Region wird
zwar musikwissenschaftlich beforscht, aber so gut wie nie in
zeitgenössischen Produktionen aufgegriffen. Vor Ort ist sie rituell
eingebunden ins Alltagsleben der Menschen. Für Khayam und Afshar war es
eine Herausforderung, die Musiker:innen zum Einspielen zu überreden: Die
meisten hatten nie a cappella gesungen oder ihre Instrumente solo gespielt.
Was auf der Platte „Raaz“ nun zueinanderfindet, sind die ungewohnte
Tonalität und Rhythmik der Folklore mit dem minimalistischen
Avantgarde-Sound der Hauptstadt: eine sonderbar sphärische und intuitiv
wirkende Verbindung, die sich in Genrevokabeln nur schwer fassen lässt.
## Überwachte Konzerte
In der [3][teheranischen Subkultur] ist traditionelle Musik selten
geworden. Zwar hätten viele seiner Bekannten Instrumente wie die
Daf-Trommel oder die Langhalslaute Setar gelernt, sagt Koch, aber das
kulturelle Leben sei doch sehr westlich geprägt. Dank Internet hört auch
Teheran das gleiche wie der Rest der Welt – wegen der Zensur allerdings
unter gänzlich anderen Bedingungen: Offizielle Konzerte finden unter
Beobachtung statt, Texte und emotionaler Ausdruck werden streng überwacht.
Daneben wächst eine lebendige Szene am Rand der Legalität: Koch spricht von
auch nach hiesigen Maßstäben experimentellen Electro-Konzerten in
stillgelegten Schwimmbädern, „in Dezibelbereichen, die hier längst nicht
mehr gehen“.
30M Records bewegt sich irgendwo dazwischen. „Raaz“ hatten etwa Khayam und
Afshar bereits im Iran aufgenommen und durch die Zensur bekommen. In
Hamburg erscheint die Platte nun mit zwei Stücken, die zu Hause unmöglich
gewesen wären – weil eine Frau singt. Das Video der Single „Chār“, in d…
die Tänzerin Shekiba Bahramian auftritt, erscheint wiederum international,
in einem Schnitt, der im Iran noch durchgeht.
Auch von außen stehen die iranischen Künstler:innen unter Druck: weil das
internationale Embargo gegen Geld- und Warenverkehr keine Ausnahme für
Kunst macht. Seit einer Weile in der Post sind die Vinylpressungen für die
Künstler. Ob und wann sie ankommen, sagt Koch, „wird sich zeigen“.
Das Geschäft von 30M Records ist eine politische Gratwanderung, wobei Koch
sich gar nicht leicht verorten lässt. Ob er am Ende als „Blockadebrecher
gegen den US-Imperialismus“, oder als „Gefährder islamischer Werte“ gese…
werde? Wahrscheinlich beides.
In diesen Konflikten positionieren will sich das Label selbst nicht. Nicht
weil es Koch egal wäre, „aber einmal laut sein und nicht weitermachen
können?“, fragt er: „Ich glaube nicht, dass man so hilft, die Künstler von
dort international bekannter zu machen.“
Schwierig ist das Geschäft auch, weil eine Musikindustrie im Iran praktisch
nicht vorhanden ist: Wegen Zensur und Embargo, aber auch, weil es im Iran
weder Kulturförderung noch verlässliches Copyright gibt. Wer es trotzdem
versucht, landet oft bei dubiosen Anbietern, die iranische Musik für
horrende Summen aus dem Ausland auf Spotify listen.
Koch bezweifelt, dass die Abzocke überhaupt etwas bringt. Man komme so
weder an Vertrieb noch Promotion. „Man bezahlt nur sehr viel Geld dafür,
dass die Musik irgendwie so da ist.“
Dass es bei 30M Records anders läuft, zeigt bereits die erste
Veröffentlichung. Statt nur Streams gibt es aufwendiges Artwork,
hochwertiges Vinyl und professionelle Pressearbeit. Und einen Plan auch auf
lange Sicht: Für Koch ist das Label nicht irgendein Projekt, sondern schon
jetzt sein Hauptjob – wenigstens zeitmäßig. Die Einnahmen müssen freilich
noch kommen.
Koch übernimmt ausschließlich die internationale Distribution und erwirbt
keine Rechte für den Iran. Wie riskant das wirtschaftlich ist, weiß er:
Normalerweise macht der Heimatmarkt die größten Umsätze, „und es ist
eigentlich ziemlich dämlich, den nicht zu machen“. Nur geht das eben nicht:
Die Rechtslage, ihre Auslegung und die lokale Szene sind von außen extrem
undurchsichtig.
Koch klingt trotzdem zuversichtlich. Als zweite Veröffentlichung ist die
Compilation „This is Teheran?“ in Planung, auf der Künstler:innen
Identitätsfragen zwischen Stadt und Umland, Heimat und Exil in
vielversprechender Widersprüchlichkeit verhandeln. Und danach geht es
weiter: Fünf Platten pro Jahr würden ihn freuen, aber festnageln lässt sich
Koch darauf nicht. Dafür gilt es viel zu viel abzuwägen in einem Land, in
dem eine kaputte Soundkarte ein paar Wochen Leerlauf zur Folge haben kann.
Von internationaler Politik und Corona ganz zu schweigen.
28 Nov 2020
## LINKS
[1] https://30m-records.com/
[2] https://30m-records.com/raaz/
[3] /Corona-und-Kunst-im-Iran/!5695959
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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