# taz.de -- Iranischer Pop: Tempo und Turbulenz | |
> Die Werkschau „This Is Tehran?“ versammelt iranische Popmusik und | |
> Avantgarde. Wichtig war dem Musikverleger dabei, keinen Exotismus zu | |
> befeuern. | |
Bild: Ehsan Abdipour ist einer der prominentesten Spieler der Sorna-Flöte | |
Zwischen Melancholie, Hektik und einigen Manien mehr oszilliert „This Is | |
Tehran?“, die zweite Albumproduktion des Hamburger Musikliebhabers Matthias | |
Koch, die er gerade auf seinem [1][2020 gegründeten Label 30M Records] | |
veröffentlicht hat. | |
„This Is Tehran?“ versammelt in einer knappen Dreiviertelstunde zehn | |
zeitgenössische iranische Musiker:innen und ihre je unterschiedlichen | |
Spielarten von Kunstliedern und experimenteller Popmusik. Das Fragezeichen | |
steht dabei nicht umsonst im Titel des stilistisch weitgefächerten Albums. | |
Die iranische Hauptstadt ist hier Titelgeber, aber die Musik kommt aus dem | |
ganzen Land. Eine Compilation möchte Koch das Album auch nicht nennen. „Das | |
klingt zu sehr nach einem billigen Plastik-Case. Werkschau passt besser.“ | |
Das schicke Cover ist übrigens den Teheraner Hausnummern nachempfunden. | |
Den Auftakt bildet ein filmreifes Instrumental des Komponisten und Geigers | |
Saba Alizadeh, sein Titel „I May Never See You Again“ ist eine sich langsam | |
verdichtende Streicherschwermut. Dabei geht die Sehnsucht hier nicht nur in | |
Samt und Seide, ihr Sound hat etwas Aufgeraut-Nervöses. | |
## Mit Kamantsche und Synthesizer | |
Auf der ersten Single-Auskoppelung des Albums spielt Sabah Alizadeh die | |
Kamantsche, eine Stachelgeige der iranischen und aserbaidschanischen Musik, | |
die Geschichte seines Instruments lässt sich bis zur byzantinischen Lyra | |
zurückverfolgen. | |
Von gestern ist die Geige nicht: Der iranische Komponist Hossein Alizadeh, | |
der 2006 in der New Yorker Carnegie Hall seine Komposition „New Work for | |
Kemancheh and String Quartett“ zur Uraufführung brachte, ist der Vater Saba | |
Alizadehs. Alizadeh jr. wird in wenigen Tagen beim Label 30M sein zweites | |
Album veröffentlichen, sein Debüt „Scattered Memories“ ist bereits 2019 | |
beim Berliner Label Karlrecords erschienen. | |
Sabah Alizadeh hat einem Gastmusiker von „This Is Tehran?“ zu seinem | |
zweiten Soloalbum mitverholfen: [2][Andreas Spechtl, Sänger der | |
berlinisch-österreichischen Band Ja, Panik] ist 2017 für zwei Monate in | |
Teheran gewesen und hat dort in Wohnzimmern und Taxis sein Soloalbum | |
„Thinking About Tomorrow, and How to Build It“ aufgenommen. Saba Alizadeh | |
begleitete ihn auch bei den Albumpräsentationen. | |
Auf „This Is Tehran?“ ist Andreas Spechtl wiederum an Perkussion und | |
Synthesizer zu hören, wenn das zweite Stück furios abhebt: „Sorna Lorestan�… | |
von Ehsan Abdipour ist ganz Tempo und Turbulenz, der Titel verweist auf | |
zweierlei: Lorestan, eine der ältesten von 31 Provinzen des Iran, und | |
Sorna, schon wieder ein altes Instrument, diesmal eine Flöte, die vor 2.500 | |
Jahren den Tag verabschiedete und den Abend begrüßte. | |
## Folkmelodien treffen auf Zeitlupenrhythmen | |
Abdipour ist einer der prominentesten Spieler seines Instruments, das bis | |
heute in eher traditionellen Arrangements verwendet wird. Auf „This Is | |
Tehran?“ geschieht das sehr gegenwärtig und mit Respekt. „Chār“, das e… | |
Gesangsstück des Albums ist Track drei und schon einmal veröffentlicht, als | |
Matthias Koch mit seinem Label 2020 an den Start ging und zunächst das | |
Album „RAAZ“ des Duos Hooshyar Khayam und Bamdad Afshar herausbrachte. | |
Die beiden Künstler unterfüttern Folkmelodien Belutschistans, des südlichen | |
Irans, mit modernen Arrangements und Zeitlupenrhythmen. Exotismus, das | |
effektvolle Vorführen des Fremdklingenden, ist das Letzte, was Koch will, | |
betont er an dieser Stelle. | |
Matthias Koch kommt von Punk und Elektronischer Musik, mittlerweile | |
arbeitet er für das Reeperbahnfestival in Hamburg und das Klassiklabel | |
Deutsche Grammophon. Koch begründet das mit der umtriebigen Neugier, die | |
ihn auch in den Iran geführt haben mag: 2015, kurz nach dem Atomabkommen | |
zwischen den USA und der Islamischen Republik Iran, begab sich Koch auf | |
eine Rucksackreise durchs Land. | |
Die Zeit, die ihm eine Firmenpleite schenkte, verbrachte der Mittvierziger | |
in einem Teheraner Studentenwohnheim im Rahmen eines Sprachaufenthalts. Er | |
ist kreuz und quer durch den Iran gereist, hat sich umgehört und | |
festgestellt, dass seine Gesprächspartner:innen bestens über | |
westlichen Pop Bescheid wissen: „Auch wir haben Internet.“ | |
## Inspiration durch den Kannibalen von Rotenburg | |
Frappierendes Beispiel einer west-östlichen Wechselbeziehung ist der Song | |
„Rotenburg 2020“ von der Otagh Band: Piano, Metallperkussion und eine | |
Soundästhetik wie beim TripHop der Neunziger. Ein Nachtstück, das den | |
[3][Fall des „Kannibalen von Rotenburg“], Armin Meiwes, aufgreift und mit | |
einem Gedicht des serbischen Lyrikers Vasko Popa in Beziehung setzt, der | |
lakonischen Schilderung eines zerstörerischen Kreislaufs. | |
Auf der Website der Otagh Band wird deutlich, dass es sich bei ihr um eine | |
literaturaffine Performancecombo handelt. Die Welt ihrer Videos ist | |
postindustriell und grotesk, an einer Stelle zerfällt der Quaderkopf einer | |
Figur in unzählige weitere, sie bilden einen Chor vereinzelter Münder. | |
Mit „Pipe Dreams“ von Ata Ebtekar alias Sote hat Koch ein heftiges Beispiel | |
iranischer Experimentalmusik in seine Sammlung aufgenommen, drastischer | |
Sound, auf dessen hypnotische Standuhr-Melodie-Klänge Gedichtzeilen gelegt | |
werden, bis eine grandiose Gaudi entstanden ist. | |
Matthias Koch hat Ata Ebtekar im Rahmen seines SET-Festivals im Teheraner | |
Azadi-Tower live erlebt und sagt: „Die leisten sich Krassheit und | |
Lautstärken, das geht hier gar nicht mehr.“ Er fügt aber auch an, dass er | |
mit „This Is Tehran?“ kein reines Noise-Paket schnüren wollte: „Mich | |
interessieren Stimmungen, nicht Genres.“ | |
22 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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