# taz.de -- Buch „111 Bauwerke in Berlin“: Wie man sich Berlin ins Haus holt | |
> „111 Bauwerke in Berlin“ von Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel ist | |
> ein Buch für eine Stadttour. Oder man schmökert darin auf der Couch. | |
Bild: Modernes Ufo vom finnischen Architekten Matti Suuronen: das Futuro-Haus v… | |
Wenn es eines an diesem neuen Architekturführer für Berlin zu bemängeln | |
gibt, dann, dass die Texte oft zu kurz erscheinen. Genau eine Seite für | |
jedes ausgesuchte Bauwerk hat die Autorin [1][Lucia Jay von Seldeneck] zur | |
Verfügung in dem Buch „111 Bauwerke in Berlin, die man kennen muss“. Aber | |
so lustvoll, wie ihre Beschreibungen sind, so gewitzt, wie sie die | |
visuellen Botschaften der Architektur auf die Berliner Geschichte bezieht, | |
so zugewandt, wie sie auf die Ideen von Bauherren und Architekten eingeht, | |
würde man oft gern noch etwas mehr wissen, etwas weiterlesen. | |
Das ist andererseits aber auch eine Qualität des Buchs. Die Autorin | |
verfällt nicht in Fachjargon. Ihre Beobachtungen und ihre Sprache lassen | |
Vertrautes neu entdecken und verändern den Blick. Zum Beispiel auf ein | |
Verwaltungsgebäude am U-Bahnhof Kleistpark, an dem ich seit 30 Jahren oft | |
vorbeigelaufen bin. Nicht wissend, dass das „Kathreiner Haus“ 1930 als | |
erstes Hochhaus von Berlin gefeiert wurde. | |
Von Seldeneck weist auf ein Detail hin in dem Bau von [2][Bruno Paul], die | |
horizontalen Fenster, die aber dennoch das Fensterkreuz beibehalten haben, | |
nur eben auf die Seite gelegt. Und plötzlich ahnt man etwas von der Eleganz | |
des massiven Baus, der nicht zuletzt wegen des langen Leerstands auch so | |
unbelebt wirkte. | |
Auf Entdeckungstour in der eigenen Stadt, das ist coronabedingt gerade eine | |
notwendige Übung. Wenn man auch als langjähriger Berliner viele Bauwerke | |
bereits kennt, ist doch schon allein daheim im Buch zu stöbern mit vielen | |
Aha-Momenten verbunden, weil sich der Blick verändert. Es gibt auch bisher | |
nicht Gesehenes oder nicht Beachtetes zu entdecken wie eine Bushaltestelle | |
in Stahnsdorf von [3][Christian Roth,] spitz und stachelig, ein | |
skulpturales Experiment, oder die überschäumende, verschnörkelte und | |
verspielte Dekoration im Treppenhaus des Amtsgerichts Mitte. | |
Oder ein erst 2019 fertig gewordenes Studierendendorf im Plänterwald, von | |
Heinz Kobler Architekten gebaut aus Containern, 420 gestapelte Module. Dazu | |
gehört auch eine [4][Ladenstraße am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, von Otto | |
Rudolf Salvisberg 1929 als erstes Einkaufszentrum der Stadt] entworfen. Die | |
Fotografien von Verena Eidel, deren Blick sich oft auf Details richtet, | |
helfen der Vorstellungskraft. | |
## Gebäude, die aus jeder Architekturgeschichte fallen | |
Die Bauwerke sind nach einer alphabetischen Ordnung aufgelistet, das | |
wirbelt sowohl die chronologische Ordnung als auch die topografische | |
durcheinander. Gründerzeit, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Bauhaus kommen | |
vor, aber nicht als Leitbilder. Die Autorin und die Fotografin führen auch | |
gern an Gebäude heran, die in sich widersprüchlich sind, vom Stilmix her | |
aus jeder Architekturgeschichte fallen. | |
Sie mögen es, wo etwas ausprobiert wird und Formsprachen getestet werden. | |
Und sie brechen eine Lanze für die Ästhetik des Brutalismus, der in | |
Westberlin einige wissenschaftliche Einrichtungen in den 1960/70er Jahren | |
geprägt hat, wie das Institut für Hygiene und Umweltmedizin am | |
Hindenburgdamm: Wie der Blick sich längs der Fassade aus Sichtbeton bewegt, | |
hüpft, springt und Kurven folgt, ist von ungeahnter Dynamik. | |
Ebenso gilt ihre Bewunderung der Moderne Ostberlins, gerade auch in den | |
repräsentativen Kulturpalästen wie dem großzügigen Kino International | |
(gebaut von Josef Kaiser und Heinz Aust 1963) und dem eleganten Funkhaus | |
Nalepastraße, das schon 1951 von Franz Ehrlich gebaut wurde. Oder dem | |
kleinen Rathaus Marzahn, das den Palast der Republik zitiert. Diese | |
Höhepunkte ihres Buchs werden von mehreren Fotos begleitet. | |
## Debatten um den sozialen Wohnungsbau | |
Trotz des knappen Platzes nimmt die Autorin auch auf Debatten Bezug wie den | |
Verruf, in den Projekte des sozialen Wohnungsbaus gerieten, am Beispiel der | |
Bunkerüberbauung in der Pallasstraße oder der Autobahnüberbauung | |
Schlangenbaderstraße; einerseits hatten die ihren schlechten Ruf weg wegen | |
Verflechtungen zwischen Politik und Bauwirtschaft, andererseits weil die | |
großen Komplexe zum sozialen Brennpunkt geworden waren. Bei beiden | |
Projekten schließt die Autorin aber hoffnungsfroh, dass eine durchmischte | |
Bewohnerstruktur inzwischen gut funktioniere. | |
Ein weiteres Thema ist die Rettung von Architekturen vor dem Abriss und | |
ihre neue Nutzung mit Beteiligungsmodellen. Dafür stehen das Haus der | |
Statistik am Alexanderplatz und das Kranhaus in Oberschöneweide, ein Anker | |
in der Umnutzung einer alten Industriebrache. So legen sich beim Lesen nach | |
und nach immer mehr Schichten von Berlins Geschichte übereinander, und die | |
Architektur wird nicht allein um ihrer selbst willen betrachtet, sondern | |
weil sie so viel von der Stadt, ihrem Wollen und Wünschen, ihrem Versagen | |
und Scheitern erzählen kann. | |
25 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Patenschaftsprojekte/!5192937 | |
[2] /Graphic-Novels-ueber-Architekten/!5622719 | |
[3] /Tag-der-Architektur-in-Berlin/!5419796 | |
[4] /Strassenumbenennung-in-Berlin/!5695389 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
Berlin | |
Architektur | |
Brutalismus | |
Moderne | |
Sozialer Wohnungsbau | |
Berliner Stadtschloss | |
Berlin | |
Architektur | |
Steglitz | |
Comic | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ökonomie und Architektur in Berlin: Wirkliche Werte | |
Geht gar nicht allein um das schnöde Geld: Das neue Heft des | |
Architekturmagazins „Arch+“ untersucht Identität und Ökonomie am Beispiel | |
von Berlin. | |
Schwarzweiß-Fotoband über Berlin: Hängt ein Mann an der Wand | |
Die Fotografin Barbara Wolff tauschte 2018 ihre schwere Ausrüstung gegen | |
das Handy. Die Ergebnisse sind großartig lebendige Stadtmomente. | |
Buch „Atlas of Brutalist Architecture“: Evolutionäre Bewegung | |
Als der Phaidon Verlag den „Atlas of Brutalist Architecture“ | |
veröffentlichte, war der schwere Band schnell ausverkauft. Jetzt wurde er | |
neu aufgelegt. | |
Straßenumbenennung in Berlin: Onkel-Toms Hütte soll verschwinden | |
Die Onkel-Tom-Straße und der zugehörige U-Bahnhof sollten gestrichen werden | |
fordern 12.000 Menschen in einer Petition. Politik reagiert verhalten. | |
Graphic Novels über Architekten: Architekten mit Abgründen | |
Mies van der Rohe und Le Corbusier waren Visionäre der Moderne. Nun widmen | |
sich zwei Comics den bewegten Biografien der Männer. | |
Patenschaftsprojekte: Mutter Pate Kind | |
Kinderloser trifft Alleinerziehende: Wahl-Paten können bei der Erziehung | |
helfen und Familien in schwierigen Phasen entlasten. Über | |
Wahlverwandtschaften. |