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# taz.de -- Patenschaftsprojekte: Mutter Pate Kind
> Kinderloser trifft Alleinerziehende: Wahl-Paten können bei der Erziehung
> helfen und Familien in schwierigen Phasen entlasten. Über
> Wahlverwandtschaften.
Bild: Dinge, die man sonst nie tun würde, machen mit Paten/Patenkind sogar Spa…
Das Besondere? Nach einer langen Pause und einem tiefen Seufzer erklärt
Birk Erdmann zögerlich: "Dass er immer für mich da ist." Mit er meint der
18-Jährige seinen Paten Martin Bücher. "Er ist jemand, der sich auskennt,
Erfahrung hat - und gut in Mathe ist." Das sei seine Mutter nämlich nicht.
Birk war zwölf, als seine Mutter, alleinerziehend mit drei Kindern, sich
nach einem Paten für ihn umgesehen hat. Martin Bücher war anfangs noch ein
Fremder, und das war, wie Birk sagt, erst mal gewöhnungsbedürftig.
"Inzwischen kennen wir uns gut." Pate und Patensohn haben sich jede Woche
getroffen und etwas unternommen. Vor allem Sport, erzählt Birk, sogar den
Halbmarathon seien sie zusammen gelaufen. Das verbindet.
Birk hat seinen Paten über Biffy gefunden. Der Berliner Verein Big Friends
for Youngsters vermittelt seit sechs Jahren Patenschaften in Deutschland.
Die Idee der Patenschaft ist uralt. In fast allen Kulturen wird irgendwann
im Leben eines Kindes ein Pate berufen, der das Kind ins Leben einführen
soll. Der Pate soll den Jugendlichen auf dem Weg ins Erwachsenensein
begleiten und nimmt das Kind bei sich auf, wenn den Eltern etwas zustoßen
sollte. In der westeuropäischen Kultur stehen die Taufpaten dem Patenkind
zur Seite. Allerdings ist diese Bedeutung einer außerfamiliären
Bezugsperson heute beinahe verloren gegangen. Viel eher herrscht die
Überzeugung: Die Familie sorgt für die Kinder - und wenn sie das nicht
schafft, springt der Staat ein.
Aber seit kurzem scheint das Modell der Wahlverwandtschaft wieder zu
boomen: Bundesweit vermitteln 200 verschiedene Vereine zwischen Paten und
Familien. Zum Beispiel gibt es in fast allen Regionen den Großelterndienst
und ein Mentorenprogramm für Migranten. Das Netzwerk gesunde Kinder vom
Klinikum Niederlausitz besorgt jedem Neugeborenen eine Patentante, um die
Mütter im ersten Jahr mit ihrem Kind zu unterstützen. Und immer mehr
"Jobpaten" betreuen Schüler in den letzten Klassen bis zu ihrer Ausbildung.
Das Besondere am Paten ist wohl seine Inbetween-Position: Er ist kein
direktes Familienmitglied, aber Vertrauensperson.
Martin Bücher (Name geändert) überlegt auch erst mal, genau wie sein
Patensohn Birk. Dann gibt er zu: "Es ist nicht nur ein Geben. Es waren auch
egoistische Gründe." Als er vor sieben Jahren Pate von Birk wurde, stand
für den damals 30-jährigen Homosexuellen fest, dass er keine eigenen Kinder
bekommen würde. "Ich wollte einfach wissen, ob ich das kann." Und dann
wurde viel mehr daraus. Der Informatiker sucht nach den richtigen Worten,
er möchte nicht pathetisch klingen: "Es ist ein neuer Sinn in meinem
Leben." Es macht Martin Bücher richtig stolz, wenn er auf die sieben Jahre
mit Birk zurückblickt. "Heute macht Birk eine Ausbildung zum Hotelfachmann,
und ich weiß, dass ich einen Teil dazu beigetragen habe." Und Martin Bücher
hat auch schon ein zweites Patenkind. Pate, das Wort gefällt ihm allerdings
nicht so gut, er fühlt sich mehr wie ein großer Bruder. Er hat durch die
Zeit mit Birk viel dazugelernt: "Wer weiß, ob ich jemals freiwillig in ein
Fußballstadion gegangen wäre?" Aber nicht nur das: Er ist auch
selbstbewusster geworden, traut sich mehr zu und weiß, dass er etwas
geschafft hat.
Verantwortlich für den gegenwärtigen Erfolg von Patenschaften ist der
Wandel in der Familienstruktur, so der Familiensoziologe Hans Bertram. Die
Familien werden kleiner. Großeltern oder andere Verwandte leben meist weit
entfernt. Deshalb, so schreibt der Soziologe, muss die Fürsorge auch über
die Familie hinausgehen. Noch dazu kommt, dass immer mehr Ehen scheitern
und alleinerziehende Mütter oft mit ihrer Situation überfordert sind.
"Unsere Gesellschaft ist nicht auf Alleinerziehende eingestellt, weder bei
der Frage der Kinderbetreuung noch auf dem Arbeitsmarkt", so Bertram. Kein
Wunder also, dass fast alle, die sich um eine Patenschaft für ihre Kinder
bemühen, alleinerziehend sind.
So wie Dagmar Kaufmann (Name geändert). Die 42-jährige Mutter von Melanie
(12) und Paul (5) leidet seit über zehn Jahren an Depressionen. Am Anfang
wurden die Symptome nicht erkannt, dann wurde die Krankheit chronisch. Eine
postnatale Depression diagnostizierten die Ärzte später, als ihre Tochter
Melanie bereits anderthalb Jahre alt war. "Seitdem lebe ich in permanenter
psychologischer Betreuung", sagt die Frau mit den ernst blickenden braunen
Augen. Als Melanie vier Jahre alt war, entschloss sie sich zu einem
Klinikaufenthalt. Es dauerte sechs Monate, bis sie wieder nach Hause kam.
"Im Krankenhaus kümmerte man sich natürlich um mich - aber ich hatte die
ganze Zeit über Schuldgefühle gegenüber Melanie." In der Klinik wurde das
Thema nicht angesprochen. "Niemand sagte mir, wie ich mit meinem Kind
darüber sprechen sollte, wie es betreut werden kann." Wenn Frau Kaufmann
erzählt, dann erzählen ihre Hände mit. Melanie lebte in diesem halben Jahr
abwechselnd bei ihrem Vater und der Großmutter. Damals ging das noch, die
Familie lebte in Frankfurt, die Großmutter wohnte in der Nähe. Heute, acht
Jahre später, wäre das so nicht mehr möglich. Dagmar Kaufmann, seit ihrer
Scheidung alleinerziehend und inzwischen auch Mutter vom fünfjährigen Paul,
lebt jetzt in Berlin. "Wenn ich mal wieder eine schlechte Zeit hatte, habe
ich jeden Schritt in Richtung einer Behandlung hinausgezögert", sagt sie
und mit einer erklärenden Handbewegung fügt sei hinzu: "Wegen der Kinder."
Sie hätte nicht gewollt, dass ihre beiden Kinder in irgendeine
Pflegefamilie kommen, wenn - wie das dann vom Jugendamt vermerkt wird - ein
Akutfall eintritt.
In der Anzeige, die Dagmar Kaufmann vor zwei Jahren in der Stadtteilzeitung
las, stand: Paten für Kinder psychisch erkrankter Eltern gesucht. Sie
wusste sofort: Das ist genau das, was sie immer gesucht hatte - ohne dass
sie es vorher hätte formulieren können. Endlich jemand, der den Kindern
helfen würde und ihr ein Stück von der schweren Last abnehmen könnte: die
Sorge, dass es ihr mal wieder schlechter geht.
Das Berliner Patenschaftsprojekt, ein Projekt von Amsoc (Ambulante
Sozialpädagogik Charlottenburg e. V.) vermittelt Paten speziell für Kinder
von psychisch kranken Eltern. Das Konzept: In den guten Zeiten treffen sich
Paten und Kinder regelmäßig einmal in der Woche und in Krisenzeiten nehmen
die Paten die Kinder bei sich auf. "Zuerst war ich skeptisch: Wer sind
diese Paten?", erinnert sich die 42-jährige Mutter. Aber alles lief gut.
Melanie und Paul sind gerne bei ihren Pateneltern. Für Dagmar Kaufmann war
das wie ein unerwarteter Ausgang aus einem endlos scheinenden Teufelskreis:
"Ich bin seitdem wieder viel stabiler, und der immense Druck, immer
weitermachen zu müssen, ist von mir gefallen."
Eine feste Bezugsperson außerhalb der Familie kann die Mutter entlasten -
und dem Kind Sicherheit geben. Aus psychologischer Sicht profitiert das
Kind enorm von einer Patenschaft, so Ulrike von Guretzky. Jedes Kind
braucht Sicherheit für die eigene psychische Stabilität. Wenn Kinder kein
positives Beziehungsmodell oder Lebensmodell erfahren, leiden sie oft mehr,
als sie sich anmerken lassen. Eigene Beziehungsprobleme und psychische
Instabilität sind nicht selten die Folge. Ulrike von Guretzky unterscheidet
zwischen zwei Modellen, bei denen das Kind beeinträchtigt ist: Zum einen,
wenn die Eltern ihrem Kind nicht genug Zuwendung geben. Bei
alleinerziehenden Müttern hingegen sind die Mutter-Kind-Beziehungen oft
enger, als es dem Kind guttut. "In diesem Fall kann eine Patenschaft Luft
verschaffen." Aber es gibt Grundregeln, damit das Dreiergespann Mutter,
Kind und Pate funktionieren kann: Der Pate darf die Mutter nicht ersetzen
wollen, und die Mutter muss loslassen können.
Katja Beeck vom Berliner Patenschaftsprojekt kann viele Gründe aufzählen,
warum Patenschaften auch mal nicht funktionieren oder wieder aufgelöst
werden. Vor allem bei psychisch erkrankten Eltern weiß man oft nicht, wie
viel man den Paten zumuten kann. "Als Pate bekommt man viel mit, kann aber
nicht eingreifen", beschreibt Beeck die wohl größte Schwierigkeit. Obwohl
alle Paten in einer Schulung mit Problemsituationen konfrontiert werden,
passiert es immer wieder, dass Paten überfordert sind. Aber, so Beeck, es
gibt eben keine besseres Angebot, was man den Kindern machen kann.
In den USA blickt das Mentoring bereits auf ein gutes Jahrhundert
Geschichte zurück. Die amerikanische Organisation Big Brothers Big Sisters
setzt sich aber für ihre Patenschaften noch ein weiteres Ziel: Sie schicken
vor allem sozial benachteiligte Kinder in die Obhut älterer Mentoren.
Dieser Ansatz wird auch in Deutschland immer verbreiteter. In Berlin planen
inzwischen die Jugendämter Patenschaften für Pflegekinder, um die Familien
zu stärken - und um Vernachlässigung schneller erkennen zu können. Das
heißt, wenn das sichere Netz von Familie und Sozialstaat langsam
wegbröselt, muss nach neuen Konzepten gesucht werden, um Randständigen und
insbesondere ihren Kindern eine Chance zu geben, weiterhin an der
Gesellschaft teilzuhaben.
23 Oct 2007
## AUTOREN
Lucia Jay von Seldeneck
## TAGS
Berlin
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