# taz.de -- Soziologe übers Schmecken: „Essen mobilisiert alle Sinne“ | |
> Wenn der Mensch schmeckt, betreibt er Wissenschaft – und das seit | |
> Urzeiten, sagt Jan-Peter Voß, der mit einem Citizen-Science-Projekt | |
> Forscher*innengeist wecken will. | |
Bild: Auf die Esssituation kommt es an – das gilt auch für die berühmten Fr… | |
taz am wochenende: Herr Voß, Essen in Museen ist normalerweise streng | |
verboten. Warum darf ich auf einmal hier im Berliner Naturkundemuseum | |
essen? | |
Jan-Peter Voß: Museen sind Orte, an denen Menschen aufgefordert sind, ihre | |
Sinne zu öffnen. Es gibt was zu hören, zu sehen. Wir erweitern das um das | |
Schmecken. | |
Die Ausstellung heißt [1][„Schmeck! Experimente für die Sinne“]. Hier | |
stehen Werkbänke mit kleinen Schälchen, die allerlei angerichtetes Gemüse, | |
Beeren und Knusperzeugs enthalten. | |
Was Sie hier sehen, ist ein kleiner Parcours. Anhand eines Handouts bitten | |
wir die Besucher*innen, verschiedene Schmeckexperimente durchzuführen, | |
Fragen zu beantworten und ihre Eindrücke zu notieren. Am Ende sollen sie | |
aus den Zutaten auf einem Teller ein Gericht kreieren und aus den | |
Varianten, die sie erprobt haben, ihre eigene Schmecksituation komponieren. | |
Was wollen Sie damit erreichen? | |
Dabei geht es darum, zu erkunden, wie sich Schmecken verändern kann, wenn | |
wir zum Beispiel bestimmte Gedanken im Kopf haben oder Geräusche hören beim | |
Essen – als Erlebnis für die Besucher*innen, aber auch für uns als | |
Wissenschaftler*innen. | |
Wie nennen Sie so etwas: eine Mitmach-Ausstellung? | |
Eine partizipative Ausstellung. Die Zettel dienen uns als Rückkanal, wir | |
arbeiten damit weiter. Wir möchten die Besucher*innen einladen, selbst zu | |
forschen, ihr Schmecken zu erkunden und es auch infrage zu stellen. Wir | |
befinden uns hier im „Experimentierfeld“ des Naturkundemuseums, einem neuen | |
Bereich, der [2][für Citizen Science, also bürgerwissenschaftliche | |
Projekte] eingerichtet worden ist. | |
Was hat Schmecken denn mit Wissenschaft zu tun? | |
Es gab Zeiten, da wurde Schmecken als eine zentrale Form der Erkenntnis und | |
Orientierung in der Welt begriffen. Sehen Sie sich mal die | |
Gattungsbezeichnung für den Menschen an: homo sapiens sapiens, der denkende | |
Mensch. Aber ursprünglich bedeutete das Lateinische „sapere“, von dem sich | |
„sapiens“ ableitet, schmecken und seine Sinne zu gebrauchen, um | |
Unterschiede festzustellen und Urteile zu bilden. Wir trennen heute die | |
rationale Vernunft vom körperlichen Empfinden, das haben uns über 2.000 | |
Jahre abendländische Philosophie gelehrt. Aber [3][der alte Kant’sche | |
Aufklärungsslogan „sapere aude!“], der immer mit „Habe Mut, selbst zu | |
denken!“ übersetzt wird, sollte eigentlich heißen: „Habe Mut, all deine | |
Sinne zu gebrauchen!“ | |
Also ist Schmecken sogar ein sehr wichtiger Sinn? | |
Essen ist eine sehr intensive und persönlich-intime Art, mit der Welt um | |
uns herum in Kontakt zu treten. Wir nehmen sie förmlich in uns auf und | |
verleiben sie uns ein. Das birgt Gefahren, ist aber überlebenswichtig – und | |
kann auch sehr freudvoll sein. Wie wir essen und schmecken, ist auch ein | |
Teil davon, wie wir uns selbst verstehen und Identität herstellen. Wir | |
wissen inzwischen, dass bei diesem Vorgang alle menschlichen Sinne | |
mobilisiert werden und zusammenspielen. Und deswegen ist Essen auch immer | |
von starken Gefühlen begleitet. | |
Seit wann interessiert sich eigentlich die Wissenschaft für das Schmecken? | |
Noch gar nicht so lange. Natürlich gab es immer ein Interesse dafür, | |
seitdem sich die Ernährungswissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts | |
entwickelten. Im Fokus stand aber anfangs, was dem Körper jenseits des | |
Geschmacks guttut. Was wir heute „Sensory Sciences“ nennen, ist erst zu | |
Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Und die meiste Zeit mit dem Zweck, | |
der Industrie Hinweise zu geben, wie sie ihre Produkte optimiert, natürlich | |
auch, um sie besser zu verkaufen. | |
Es gibt also noch einige Forschungslücken? | |
Ja, und eine große bezieht sich auf das Schmecken in Alltagssituationen. | |
Darüber kann die Wissenschaft noch wenig sagen. Das Schmecken wird bislang | |
in künstlich standardisierten Laborsituationen untersucht. | |
Darum geht es auch in dem [4][Schmeckprojekt an der TU Berlin], im Rahmen | |
dessen die Ausstellung stattfindet. Welches Interesse leitet Sie als | |
Wissenschaftler? | |
Bislang wird in der Ernährungsbildung und -politik davon ausgegangen, dass | |
Schmecken fast unveränderlich determiniert ist, biologisch, sozial oder | |
beides. Wir glauben, dass das ein Irrtum ist, und versuchen stattdessen die | |
verschiedenen Einflüsse offenzulegen, die in jeder Situation, in der wir | |
essen, zusammenwirken und ein je eigenes Schmeckerlebnis hervorbringen. | |
Sie meinen den alten Satz: „Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht.“ | |
Warum ist das wichtig, den zu hinterfragen. | |
Weil wir angesichts des Klimawandels und auch der Bevölkerungsentwicklung | |
vor großen Herausforderungen stehen. Wir reden über nachhaltige Ernährung, | |
die Reduktion von Fleischkonsum und Essen anhand von regionalen und | |
saisonalen Angeboten. Sieht man sich an, was da diskutiert wird, scheint | |
die Auffassung zu herrschen, der Appetit und das Begehren nach „falschem | |
Essen“, also Hamburger, Steak, Tiefkühlpizza, Limo und so weiter ließe sich | |
selbst nicht verändern, sondern nur bremsen und kontrollieren. Deshalb gibt | |
es Programme für Ernährungsbildung, Produktkennzeichnungen, die Diskussion | |
über Abgaben und Steuern. Der Erfolg all dessen ist aber begrenzt. | |
Sie sagen, man kann das Schmecken verändern? | |
Ja. Die Art und Weise, wie wir essen und unser Schmecken beobachten, | |
beeinflusst das Schmecken. Wie jedes sinnliche und ästhetische Erleben ist | |
es eben nicht in unseren Genen oder frühen biografischen Erfahrung | |
festgelegt, sondern resultiert aus einem komplexen Zusammenspiel von | |
Gewohnheiten und den jeweiligen „Esssituationen“, in denen wir uns | |
aufhalten – und die wir auch mitgestalten. Wir kennen das alle, es gibt | |
ganz typische Beispiele, dafür: Die Schwimmbad-Pommes, die nur auf der | |
Wiese am Pool schmecken, Döner nach einer langen Clubnacht, Plätzchen | |
unterm Weihnachtsbaum. | |
Und das ist auch, was die Ausstellung im Naturkundemuseum vermitteln will? | |
Ja. Die Experimente zielen darauf, mit verschiedenen Elementen zu spielen, | |
die im Zusammenspiel solche Esssituationen ausmachen und das spezifische | |
Erlebnis des Schmeckens darin hervorbringen. Für uns als Profi- und | |
Bürgerwissenschaftler*innen, die das beobachten, geht es auch darum, zu | |
testen, wie sich die Besucher*innen darauf einlassen. Und ob sie Gefallen | |
daran finden können, praktische Schmeckgewohnheiten in Bewegung zu bringen | |
und ihr eigenes Schmecken spielerisch zu verändern und zu gestalten. | |
11 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/schmeck-experimente-fuer-die-sin… | |
[2] /Citizen-Science-Konferenz-in-Berlin/!5304562 | |
[3] /Buch-ueber-das-Zeitalter-der-Aufklaerung/!5256395 | |
[4] https://www.schmeckprojekt.de/ | |
## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
## TAGS | |
Schmecken | |
Sinne | |
Essen | |
Citizen Science | |
Soziologie | |
Obst | |
Soziale Medien | |
Gourmetküche | |
Japan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Produktdesignerin über Obst und Gemüse: „Geschmack spielt kaum eine Rolle“ | |
Äpfel für den Handel müssen gut aussehen, transportfähig und nicht zu klein | |
sein. Sie sind gestaltet wie Produkte, sagt Designwissenschaftlerin Johanna | |
Kleinert. | |
Ernährungsberaterin über das Internet: „Wir leben im Scharaffenland“ | |
Früher lieferten Frauenzeitschriften Ernährungstipps und schlechte Laune, | |
heute gibt es Instagram und Foodblogger. Eva-Maria Endres erforscht die | |
Wirkung. | |
Foodmagazin-Gründer über Esskultur: „Es ist wie bei einem Live-Konzert“ | |
Als Vijay Sapre 2008 das kulinarische Magazin „Efilee“ erfand, war die | |
Molekularküche in aller Munde. Heute isst man lokal und saisonal. Ein | |
Gespräch über Esstrends. | |
Autor über japanische Hochküche: „Die Dinge sind, wie sie sind“ | |
Saisonal, regional, reduziert: Die japanische Hochküche Kaiseki feiert die | |
Einfachheit. „Es geht darum, die Jahreszeiten zu essen“, sagt der Philosoph | |
Malte Härtig. |