# taz.de -- Foodmagazin-Gründer über Esskultur: „Es ist wie bei einem Live-… | |
> Als Vijay Sapre 2008 das kulinarische Magazin „Efilee“ erfand, war die | |
> Molekularküche in aller Munde. Heute isst man lokal und saisonal. Ein | |
> Gespräch über Esstrends. | |
Bild: Fleisch in Plastik: Beim Sous-vide-Verfahren wird das Fleisch eingeschwei… | |
taz am wochenende: Herr Sapre, Sie haben vor zehn Jahren das Food-Magazin | |
„Effilee“ gegründet. Wie hat sich die Esskultur seit 2008 verändert? | |
Vijay Sapre: Essen muss viel fotografierbarer sein als vor zehn Jahren. Es | |
gab damals noch keine Food-Blogger, Facebook war noch ziemlich jung, auch | |
der Begriff „Foodie“ war relativ unbekannt. Die Digitalisierung hat einen | |
großen Einfluss. Am meisten hat sich aber das Publikum verändert. | |
Es kommen jetzt andere Menschen in die Spitzengastronomie? | |
Noch vor zehn Jahren haben sich Sternerestaurants um die Bessergestellten | |
gekümmert, um Honoratioren und Topverdiener aus der Wirtschaft. Heute ist | |
das wesentlich vielfältiger. | |
Die Spitzengastronomie ist niedrigschwelliger geworden? | |
Ich glaube, die Schwellenangst der einfachen Leute ist ein Mythos. Es war | |
vielmehr so, dass es sie damals einfach weniger interessiert hat, was in | |
solchen Restaurants stattfindet. | |
Sie schon – kaum jemand in Deutschland kennt die internationale Sterneküche | |
so gut. | |
Ja, das war einer der Gründe für die Gründung von Effilee. Ich dachte mir: | |
Vielleicht schaffst du es so, einen Tisch bei Ferran Adria im El Bulli zu | |
bekommen. Das ist mir nie gelungen. Leider. | |
Ferran Adria und die Molekularküche waren 2008 das Thema. Sogar das | |
Feuilleton beschäftigte sich auf einmal mit Essen. | |
Wobei die Molekularküche in Deutschland oft falsch verstanden wurde, vom | |
Publikum wie auch von vielen Köchen. Es gab da den gemeinsamen Moment, so | |
ein: So, wir müssen jetzt alles neu machen. Auf einmal stand der Gedanke | |
übergroß im Raum, dass Kochen als Kunst nicht genug gewürdigt wird. | |
Was ist daran falsch? | |
Prinzipiell nichts. Aber man muss sich darüber klar sein, dass nicht jeder | |
dem Anspruch gewachsen ist. Viele Köche sind von dem Gedanken, sie müssten | |
jetzt dauernd kreativ sein, eigentlich überfordert … | |
… und versuchen mangelnden Ideenreichtum durch beeindruckend wirkende | |
Kochtechniken zu kompensieren? | |
Da musste ein Stück Fleisch zu einem sauberen Quader geschnitten werden. | |
Dann können wir es einschweißen, bei knapp über 50 Grad sous-vide garen und | |
dann nehmen wir das mittelste Stück davon, das können wir dann vielleicht | |
servieren. Das ist ja noch nicht mal übertrieben, das gab es tatsächlich | |
und gibt es bis heute. | |
Das war eine falsche Interpretation? | |
Es wurde zu viel an Tradition über Bord geworfen. In dieser Zeit, als diese | |
ganzen Molekulargeschichten aufkamen, da hat man versucht, sich das | |
Material untertan zu machen. Es war auch die Zeit, als das Wort Idee nicht | |
mehr reichte und alles gleich zur Vision aufgeblasen werden musste. Das | |
Wort ist mir derart zuwider! Der Visionär hat ja keine Bindung an die | |
Wirklichkeit und muss sich die Produkte, Fisch, Fleisch, Gemüse, gefügig | |
machen. Das ist oft ziemlich gewalttätig. Was setzt man diesem Produkt | |
entgegen, damit es gefügig wird? So dachten Köche damals. Erst seit den | |
letzten zwei, drei Jahren gibt es wieder ein Umdenken. | |
Aber die Molekularküche hat doch nicht nur diesen artifiziellen Aspekt. | |
Durch die technisch-wissenschaftliche Herangehensweise wurden Produkte und | |
Zutaten auch zu einem Untersuchungsgegenstand, mit dem man sich stärker | |
auseinandersetzte. Mein Gefühl ist, das hat sich auch auf eine neue | |
Generation von Köchen übertragen. | |
Absolut. Ich habe ja selbst auch gar nichts gegen die Molekularküche. Das | |
größte kulinarische Erlebnis für mich war im Fat Duck von Heston Blumenthal | |
in London. Seine Küche hat überhaupt nicht so viel mit Technik und Chemie | |
zu tun, wie viele denken. | |
Es gibt in der „Effilee“ ein Format, das heißt „Ein Teller“. Sie lassen | |
sich von einem Koch eine Komposition genau erklären. Wenn man nun die | |
letzten zehn Jahre konzentriert auf einem Teller zusammenstellen würde, | |
dann läge da ein sauberer Quader Rinderfilet, sous-vide-gegart. Und | |
daneben? | |
Zum Beispiel gegrillter Brokkoli, so wie ich ihn neulich im Ernst in Berlin | |
gegessen habe. Also ganz junge Schösslinge, auch die Blätter sind außen | |
noch dran, sodass man den Brokkoli gar nicht sieht. Frisch vom Feld, sehr | |
direkt. Das Gemüse kommt kurz auf den Grill und fängt auch ein wenig Rauch. | |
Es ist noch nicht so richtig gar und ein bisschen hart. Sehr interessant … | |
Hat Gemüse einen neuen Stellenwert in der Gourmetküche bekommen? | |
Nein, es ist eine neue Haltung gegenüber eigentlich allen Produkten. Eckart | |
Witzigmann, der erste deutsche Sternekoch, ist noch mit einem Kleinlaster | |
nach Paris gefahren und hat ein halbes Kalb und Gänseleber eingeladen. Dann | |
konnte er mit Produkten kochen, die außer ihm keiner hatte in Deutschland. | |
Dann haben sich Zulieferer entwickelt. Heutzutage kann man die exotischsten | |
Zutaten bestellen und bekommt die frischeste Ware ein- bis zweimal die | |
Woche frei Haus. Das war natürlich Voraussetzung dafür, dass sich in | |
Deutschland überhaupt eine so breite Szene von Spitzenrestaurants | |
entwickeln konnte. Aber in gewisser Weise servieren eben auch alle das | |
Gleiche. Ende der Nullerjahre gab es unzählige Restaurants, die einem eine | |
Weltreise versprachen. Die heutige Generation sagt: Genau das machen wir | |
nicht mehr mit. | |
Das ist der Trend zu lokal und saisonal? | |
Das greift zu kurz. Es ist eine neue Auffassung von der Kreativität und der | |
Arbeit des Kochs, die viel früher beginnt. Nämlich im Kontakt mit den | |
Produzenten. Als wir vor zehn Jahren mit Effilee angefangen haben, war das | |
überhaupt kein Thema. | |
Hier kommt ein anderer Name ins Spiel. René Redzepi, vor zehn Jahren als | |
Küchenchef des Noma in Kopenhagen ein aufsteigender Stern. | |
Er hat gezeigt: Wir können das gleiche Niveau an Kreativität und an | |
Spannung halten, ohne die Dinge so stark zu verbiegen. Er ist viel näher am | |
Produkt und vor allem an die Natur gegangen. Das hat natürlich immensen | |
Einfluss gehabt. Man kann das gar nicht hoch genug einschätzen. Es gibt | |
kaum ein Restaurant, in dem das heutzutage keine Rolle spielt. | |
Die Arbeit beginnt in den Augen dieser Köche lange vor der Arbeit in der | |
Küche. Sie sammeln Zutaten oder legen Gärten an, sie haben enge | |
Produzentenbeziehungen, sie räuchern, backen, wursten und legen Gemüse | |
selbst ein für den Herbst und Winter. | |
Sie besinnen sich wieder auf ganz alte Traditionen. Das hat erst einmal gar | |
nichts mehr mit Kunst zu tun. Aber so entsteht eine neue Einheit von Zeit | |
und Ort. Es ist wie bei einem Live-Konzert. Das ist der große Charme dieser | |
neuen Generation. | |
Offenlegung: Der Autor des Interviews schreibt auch verschiedentlich für | |
„Effilee“. Für die taz hatte er Vijay Sapre zuletzt 2016 getroffen, um zum | |
Gedenken an den verstorbenen Wolfram Siebeck [1][gemeinsam zu kochen]. | |
29 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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