| # taz.de -- Buch über das Zeitalter der Aufklärung: Habe Mut zu wissen | |
| > Mündigkeit, gute Politik und vor allem Vernunft: Steffen Martus erzählt | |
| > von der Aufklärung und einem großem deutschen 18. Jahrhundert. | |
| Bild: Der Königsberger verfasste die programmatische Schrift „Was ist Aufkl�… | |
| „Aufklärung“ ist, so Immanuel Kant in der Berlinischen Monatsschrift des | |
| Jahres 1784 der „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter | |
| Unmündigkeit.“ Das war fünf Jahre vor der Französischen Revolution, die | |
| Kant Jahre später als „Geschichtszeichen“ begrüßen sollte. Freilich sei | |
| diese selbst verschuldete Unmündigkeit, so Kant weiter, nicht einem Mangel | |
| des Verstandes, sondern einem Mangel an Mut zuzurechnen. Weshalb das Motto | |
| der Aufklärung nur lauten könne: „Sapere Aude“ – „habe Mut zu wissen!… | |
| Nun ist zum ersten Mal eine ausführliche Studie zu den Vorbedingungen und | |
| Folgen dieser sprichwörtlich gewordenen Definition erschienen. Der Berliner | |
| Germanist Steffen Martus ruft in seinem umfassenden Buch eine weitgehend | |
| vergessene Epoche in Erinnerung, die bisher von Geschichtswissenschaft und | |
| im Allgemeinverständnis ein eher stiefmütterliches Dasein fristete. | |
| Im Schatten der Debatten um den „deutschen Sonderweg“ wurde häufig | |
| übersehen, dass neben Frankreich auch die deutschsprachigen Länder Orte der | |
| Aufklärung waren. In Kunst, Philosophie und politischem Wollen waren sie | |
| allemal dem Ziel vernünftig begründeter Herrschaft im Horizont der Freiheit | |
| verbunden. | |
| Keineswegs war Immanuel Kant der einzige, der dafür eintrat. Allerdings – | |
| und das erschwert den Zugang zur deutschen Aufklärung – gab es hierzulande, | |
| anders als in Frankreich oder England – kein in sich geschlossenes, mehr | |
| oder minder durch ein einziges Zentrum repräsentiertes politisches | |
| Gemeinwesen. | |
| Die vielen Zentren waren in dem Verband des „Heiliges Römisches Reich | |
| deutscher Nation“ zusammengeschlossen, das in Komplexität und | |
| Widersprüchlichkeit am ehesten mit der heutigen Europäischen Union | |
| vergleichbar ist. | |
| ## Philosophie des Vernünftigen | |
| Politische Herrschaft aber wurde in den zum Reich gehörenden | |
| Territorialfürstentümern – mit Ausnahme der freien Reichsstädte – zumeist | |
| im Rahmen dessen ausgeübt, was als „aufgeklärter Absolutismus“ bezeichnet | |
| wird. Ein Herrschaftssystem, in dem ein angeblich von allen irdischen | |
| Einschränkungen „losgelöster“ (absolutus) Herrscher Gesetze erließ, | |
| durchsetzte und über eine von ihm abhängige Gerichtsbarkeit eventuelle | |
| Streitigkeiten lösen ließ. | |
| Dass dies kaum der Realität entsprach, dass auch die absoluten Herrschaft | |
| zur Finanzierung von Prunk oder Armee auch wohlhabender Untertanen als | |
| Steuerzahler bedurften und ihnen deshalb gewisse Rechte einräumen mussten, | |
| steht auf einem anderen Blatt. | |
| In den deutschen Ländern korrespondierte dem – und darum geht es in Martus’ | |
| Buch – eine Philosophie des Vernünftigen, auf den christlichen | |
| Offenbarungsglauben programmatisch verzichtenden Denkens. Es handelt sich | |
| um eine rationalistische Philosophie, für die vor allem Gottfried Wilhelm | |
| Leibniz, Christian Thomasius und Christian Wolff standen. Ihre Namen und | |
| ihre Werke sind seit Kant weitgehend in Vergessenheit geraten und vor allem | |
| Philosophiehistoriker noch geläufig. | |
| War es doch Kant, der mit seiner Philosophie sowohl den englischen | |
| Empirismus von Locke, Hume und Berkeley als auch den Rationalismus der oben | |
| genannten zu überwinden beanspruchte. Während die Angelsachsen aber auch | |
| ein Descartes oder Spinoza bis heute wichtige Bezugspunkte bilden, sind die | |
| rationalistischen deutschen Philosophen Wolff, Thomasius und Leibniz mehr | |
| oder minder vergessen. | |
| ## Was ist heute daraus zu lernen? | |
| Insofern stellt Martus’ Buch nicht weniger als eine „Wiedergutmachung“ da… | |
| Doch, was ist für die Gegenwart von den protestantisch geprägten | |
| Frühaufklärern zu lernen? Folgt man dem Autor, lernt man vor allem wie und | |
| unter welchen gesellschaftlichen Umständen sich solch ein rationalistisches | |
| Denken entwickeln konnte. Aber auch, dass es – in Konkurrenz mit dem | |
| protestantischen Christentum – zwei diametral einander entgegengesetzte | |
| Auffassungen vom Menschen gab: eine pessimistische sowie eine optimistische | |
| Anthropologie. Politisch ging es bei alledem – um „gute Policey“ – so d… | |
| damalige Fachausdruck, der nicht mit der Bezeichnung für heutige | |
| Ordnungshüter zu verwechseln ist. | |
| Die ihr zugrunde liegende Anthropologie entwickelte sich im Rahmen der | |
| frühbürgerlichen Gesellschaft. Zu deren zentralen Institutionen gehörten | |
| selbstbewusste, ökonomisch erfolgreiche, Konflikte nicht scheuende | |
| Kaufmannschaften. Sodann Höfe, an denen meist Adlige in schwer | |
| durchschaubaren und rational nicht nachvollziehbaren Statuskonstellationen | |
| Ansehen und Positionen zu erkämpfen hatten. Und nicht zuletzt die | |
| Universitäten, in denen vor allem bürgerliche junge Männer die Chance | |
| fanden, über das sich ausbildende Wissenschaftssystem ihren sozialen | |
| Aufstieg zu vollziehen. | |
| In den Kaufmannschaften wurde das Wissen um bürgerliche Solidarität und | |
| wirtschaftliches Durchsetzungsvermögen erworben. An den Höfen war es | |
| hingegen unabdingbar die Verstellungskunst, also strategisches Denken und | |
| Rollendistanz zu beherrschen. Und an den Universitäten wurde über das | |
| Fachwissens hinaus ein Habitus rationaler Argumentation eingeübt. | |
| ## Konkurrierende Menschenbilder | |
| Dies alles vollzog sich vor dem Hintergrund einer protestantischen Kultur, | |
| die – damals pietistisch geprägt – auf Welt erschließendes und Welt | |
| verbesserndes Handeln zielte. Allerdings stets mit dem Vorbehalt, dass | |
| daraus kein Dünkel der Selbstermächtigung erfolge. Martus fasst die vor | |
| diesem gesellschaftlichen Hintergrund miteinander konkurrierenden Welt- und | |
| Menschenbilder von Aufklärung und Pietismus prägnant zusammen: | |
| „Das eine Reformpaket basiert auf der Überzeugung, dass die menschliche | |
| Vernunft korrupt und daher unbedingt auf die Gnade Gottes angewiesen sei. | |
| Das andere konnte mit dem Sündenfall und folglich auch mit dem daraus | |
| folgenden Erlösungsbedarf nichts anfangen und sprach dem Menschen zumindest | |
| potenziell eine gesunde Vernunft zu: „Der Mensch ist dazu geschaffen, nach | |
| Glückseligkeit zu streben, nicht dazu, seine Schuld nach dem Sündenfall | |
| abzutragen; er weiß, was ‚gut‘ und ‚böse‘ bedeuten, nicht aus | |
| übernatürlichen Quellen, sondern weil er über die Fähigkeiten eines | |
| vernünftigen Wesens verfügt; seine Vernunft mag noch mangelhaft ausgeprägt | |
| sein, aber ihm bleibt die Möglichkeit zur ständigen Selbstverbesserung.“ | |
| In einer Stadt wie Halle an der Saale, seit dem siebzehnten Jahrhundert | |
| preußisch, wurde 1694 eine der ältesten deutschen Universitäten gegründet | |
| als auch 1698 die pietistischen Franckeschen Anstalten. Diese etablierten | |
| eine methodisch disziplinierende Pädagogik, die die bürgerlichen Menschen | |
| formen, Stadt und Land zu Wohlstand, Macht und Ansehen bringen sollten. | |
| Ob dies gelingen konnte oder nicht, war Thema vieler Publikationen und | |
| geselliger Vereine, denen es immer wieder um die Frage ging, ob „die | |
| Versuche der Aufklärung“ so Martus „ die Geschichte aus den gängigen Zykl… | |
| von Mangelgesellschaften mit ihren Abfolgen von Krise und Krisenbewältigung | |
| zu befreien und ihr eine progressive Richtung zu geben“ erfolgreich sein | |
| konnten. | |
| Das dem zugrunde liegende Dilemma vom endlichen Mensch hier und | |
| menschheitlicher Großerzählung dort schlug sich allemal in den Individuen | |
| selbst nieder. Die Aufklärungszeit brachte eine Fülle von empfindsamer bis | |
| unverblümt erotischer Literatur hervor, die der Autor dieser | |
| Kulturgeschichte, von Hause aus Germanist, neu zu entdecken einlädt. | |
| Es ist im Rahmen einer Rezension unmöglich, einem insgesamt über tausend | |
| Seiten langen, erhellend und flüssig geschriebenen Werk in all seinen | |
| Facetten gerecht zu werden. Allemal aber lässt sich festhalten, dass mit | |
| Martus’ Studie eine in fast jeder Hinsicht gelungene, panoramahafte | |
| Darstellung dieser Epoche vorliegt. Eine Darstellung, der es gelingt, | |
| sozialwissenschaftliche, gesellschafts- und ideengeschichtliche | |
| Perspektiven so miteinander zu verknüpfen, dass am Ende ein umfassendes | |
| Bild, ein zum Betrachten einladender Wandteppich, wie ihn jene Zeit der | |
| prunkenden Repräsentation liebte, vorliegt. | |
| 4 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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