| # taz.de -- Kant-Tagung in Berlin: Ein europäisches Angebot an die Welt | |
| > Um Aufklärung, Freiheit und Gastrechte ging es in einem Symposium zu | |
| > Immanuel Kant. Eine Frage bleibt: die Vermittlung seiner Werke an | |
| > Jüngere. | |
| Bild: Der Philosoph als Miniatur, nach einer Zeichnung des Künstlers Veit Hann… | |
| Große Ereignisse werfen, so heißt es, ihre Schatten voraus. Umgekehrt gilt | |
| aber auch, dass Schatten geworfen werden, wo sich etwas Großes ereignen | |
| soll. | |
| Der Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant wurde im Jahr 1724 geboren, aber | |
| eine erste Auftaktveranstaltung zu seinem dreihundertsten Geburtstag fand | |
| bereits jetzt, acht Jahre vorher, in Berlin statt. Unterstützt von der | |
| Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, | |
| und dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen | |
| Europa lud die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften in und | |
| mit dem Deutschen Historischen Museum zu der Tagung „300 Jahre Immanuel | |
| Kant. Der Weg zum Jubiläum“ ein. | |
| Dazu begrüßte Monika Grütters auch Angehörige des diplomatischen Korps | |
| aus Russland und Polen. Umrahmt von den wenig bekannten „Claviersonaten“ | |
| von Kants Zeitgenossen Christian Wilhelm Podbielski, virtuos von der jungen | |
| Pianistin Mira Lange auf einem historischen Hammerflügel gespielt, nahm | |
| das Auftaktsymposium seinen Lauf. | |
| Freilich war gleich zu Anfang, in den Begrüßungsworten von Grütters, ein | |
| Rest von – sagen wir – Vertriebenenpolitik zu verspüren, als die | |
| Bundesbeauftragte für Kultur auf den den meisten Anwesenden völlig | |
| unbekannten Paragrafen 96 des Bundesvertriebenengesetzes aufmerksam machte. | |
| Dort heißt es unter anderem: „Bund und Länder haben entsprechend ihrer | |
| durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der | |
| Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, | |
| des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten. […] Sie haben | |
| Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der | |
| Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, | |
| sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und | |
| Flüchtlinge zu fördern […].“ | |
| ## Der Kosmopolit als Deutscher? | |
| Immanuel Kant – lange Jahre ein Untertan des Zaren – zentraler | |
| Bestandteil des Kulturguts der Vertreibungsgebiete? Der Kosmopolit als | |
| Deutscher? | |
| Die Tagung selbst stellte im Gegenzug Immanuel Kant aus Königsberg, nach | |
| 1945 in Kaliningrad umbenannt, als Universalisten, Aufklärer und, ja, als | |
| scharfen Kritiker des Kolonialismus vor – ein deutsches, ein europäisches | |
| Angebot an die Welt, worauf vor allem die US-amerikanische Philosophin | |
| Onora O’Neill abhob. Sie nahm in ihrem Vortrag Bezug auf Heinrich Heines | |
| Schrift über „Philosophie und Religion in Deutschland“ und seinen ätzenden | |
| Spott über den schließlich doch Gott postulierenden „Alleszermalmer“. | |
| Und sie legte dar, dass der Königsberger Philosoph wie kein anderer an der | |
| Stelle komplexer metaphysischer Gebilde eine Theorie der Philosophie | |
| vorgelegt habe, die deshalb demokratisch sei, weil sie auf den allen | |
| Menschen möglichen Gebrauch guter sprachlicher Gründe abgehoben habe. | |
| Unter Berufung auf genau diesen demokratischen Charakter von Kants | |
| Philosophie wiederholte O'Neill einen philosophischen Schlachtruf, der | |
| schon im Deutschland der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert | |
| erklang: „Zurück zu Kant!“. Wie sinnvoll diese Parole zumal in der | |
| Gegenwart ist, entfaltete der politische Philosoph Otfried Höffe in | |
| einleitenden Bemerkungen zu einem Workshop über „Kant und die Politik“. | |
| Dabei ging es zunächst um die Frage, ob der Universalist Kant bereits eine | |
| Theorie der Menschenrechte entwickelt habe, sowie darum, ob Kants | |
| Vorstellungen vom „ewigen Frieden“ tatsächlich bereits ein politisches | |
| Gebilde wie die heutigen UN vorweggenommen haben. Höffe wies darauf hin, | |
| dass Kant keine Menschenrechte, sondern nur ein einziges Menschenrecht | |
| postuliert habe, nämlich das Recht auf Freiheit, das mit der Freiheit aller | |
| anderen kompatibel sei. Dieses Recht bestehe – so Kant in der „Metaphysik | |
| der Sitten“ – in einer menschlichen Ordnung, gemäß derer „die Willkür … | |
| einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der | |
| Freiheit zusammen vereinigt werden kann“. | |
| ## Weltbürger- und Gastrecht | |
| Erwartbar war des Weiteren, dass mit einem Vortrag und anschließender | |
| Diskussion das Thema Flucht im Zusammenhang mit Kants Ausführungen über ein | |
| „Weltbürgerrecht“ diskutiert wurde. Dabei unterscheide Kant zwischen einem | |
| „Besuchs-“ und einem „Gastrecht“, einem Gastrecht, das aber in seinem K… | |
| im Recht der „Hospitalität“, „im Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft … | |
| dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu | |
| werden“, bestehe. Die Debatte machte aber auch klar, dass Kant sich in | |
| seiner Schrift zum „ewigen Frieden“ als schärfster Kritiker des damaligen | |
| Kolonialismus positionierte – worauf die Direktorin des Einstein Forums | |
| Potsdam, die bekennende Kantianerin Susan Neiman hinwies. | |
| Mehr noch: Neiman kritisierte aufs Schärfste Philosophen und | |
| Philosophinnen, die als Poststrukturalisten oder Postkolonialistinnen | |
| meinen, die Philosophie der Aufklärung pauschal als Ausdruck von Herrschaft | |
| und Unterdrückung kritisieren zu sollen und damit doch nur einem | |
| ethnozentrischen Relativismus das Wort redeten. | |
| Womit das Symposion in das abschließende, von dem Feuilletonisten Patrick | |
| Bahners launig moderierte Schlusspodium mündete, bei dem die Wiener | |
| Philosophin Violetta Waibel sich mit der Kant-Rezeption im | |
| „preußenfeindlichen“ Österreich befasste. Schließlich wies Marcus | |
| Willaschek, Herausgeber des gerade vor einem Jahr erschienenen | |
| dreibändigen, auf Jahre unersetzbaren Kant-Lexikons, darauf hin, dass man | |
| es sich zu leicht mache, Kant je nach Gusto zur Untermauerung der eigenen | |
| Position zu nutzen; vielmehr seien der Eigencharakter und Eigensinn dieses | |
| Philosophen ernst zu nehmen. | |
| ## Mut und Verstand | |
| Fragen und Hoffnungen galten schließlich dem Problem, ob und wie Kant und | |
| sein Werk jüngeren Menschen, nicht zuletzt Schülerinnen und Schülern zu | |
| vermitteln sei. Das ist ein Wunsch, der sich immer wieder Kants Programm | |
| der Aufklärung versichert: also „dem Ausgang aus selbstverschuldeter | |
| Unmündigkeit“, wozu es des Muts bedürfe, „sich seines Verstandes ohne | |
| Leitung anderer zu bedienen“. | |
| Als Auftakt durchweg gelungen, wünscht man dem in acht Jahren | |
| bevorstehenden Kant-Jubiläum gleichwohl, dass es nicht wie das nächste Jahr | |
| anstehende Luther-Jubiläum so zerredet und zerschrieben werde, dass man | |
| schon vorher des Autors überdrüssig wird. | |
| 9 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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