| # taz.de -- Sozialkritisches Buch „Anerkennung“: Nicht ohne die anderen | |
| > Das Wort Selfie kommt in Axel Honneths neuestem Werk „Anerkennung“ nicht | |
| > vor. Obwohl es nahe läge. | |
| Bild: Der Hang zur Selbstdarstellung drückt sich heute in einem regelrechten S… | |
| Berlin taz | Ein lachendes Gesicht, eine Armeslänge entfernt von der | |
| eigenen Hand aufgenommen, meist ist das magische Viereck, das es bannt, | |
| noch im Bild. Bei der ikonischen Geste der Gegenwart schrillen gewöhnlich | |
| alle kulturpessimistischen Alarmglocken. Doch nur um Narzissmus geht es | |
| dabei nicht. Ohne die Hoffnung auf Anerkennung durch ein Gegenüber würde | |
| diese fröhliche Verrenkung keinen Sinn machen. Das Wort Selfie kommt in | |
| Axel Honneths neuestem Werk nicht vor. Obwohl es nahe läge. Schließlich ist | |
| die übertriebene Selbstliebe, die dem Selfie-Modus angekreidet wird, einer | |
| der Angelpunkte von [1][Jean-Jacques Rousseaus Philosophie]. | |
| Mit dem französischen Aufklärer lässt der Frankfurter Philosoph, Jahrgang | |
| 1949 und Direktor des legendären Instituts für Sozialforschung, sein Buch | |
| über „Anerkennung“ beginnen. Mit ihm sieht er die „negative Schule“ ei… | |
| philosophisch begründeten Begriffs von Anerkennung in Europa begründet, die | |
| bis zu Jean-Paul Sartre und Louis Althusser reicht. | |
| Aus der Anschauung der höfischen Distinktionskämpfe des Ancien Régime | |
| destilliert Rousseau seinen Begriff der amour propre: die Neigung seiner | |
| Zeitgenossen, sich vom Urteil ihrer Umwelt so abhängig zu machen, dass sie | |
| am Ende nicht mehr wissen, wer sie selbst sind. Diese Orientierung an einem | |
| Gegenüber wenden David Hume oder Adam Smith nun mit ihrer „positiven | |
| Schule“ in einen Vorteil. In sein Auftreten einen „idealen Beobachter“ zu | |
| internalisieren, so ließen sich diese Ansätze zusammenfassen, fördert nicht | |
| nur die moralische Selbstkontrolle. Es verwandelt auch Egoismus und | |
| Eigennutz – die Triebfedern des britischen Frühkapitalismus – zu so etwas | |
| wie „Gemeinsinn“. Das Schlüsselwort heißt hier sympathy. | |
| Die deutschen Philosophen denken Anerkennung vom Prinzip der | |
| Wechselseitigkeit her. Nach Immanuel Kant erblicken wir im Anderen die | |
| Verkörperung des allgemeinen Sittengesetzes. Wir [2][unterstellen ihm | |
| Vernunft] und räumen ihm die Freiheit der Reaktion ein. Der Idealist Hegel | |
| schließlich stellt diese Idee vom metaphysischen Kopf auf die | |
| materialistischen Füße. Für ihn ist sie nicht nur ein „geistiges | |
| Verlangen“, sondern mit konkreten Praktiken verbunden. Je nach sozialer | |
| Stellung der Beteiligten ist sie zudem ein asymmetrischer Konflikt. | |
| ## Wie eine App im Hintergrund | |
| Honneth verkneift sich jeden Bezug zu aktuellen Debatten. Er diskutiert | |
| sein Thema auch nicht im Lichte neuerer Ansätze wie Charles Taylor oder | |
| Avischai Margalit. Seine Untersuchung muss man sich wie eine App | |
| vorstellen, die „im Hintergrund“ läuft. Während im moralischen Tageskampf | |
| plötzlich alle „weiche“ Tugenden wie Zuwendung, Wertschätzung, Achtsamkeit | |
| oder eben Anerkennung reklamieren, birgt der Philosoph stoisch deren | |
| Wurzeln aus dem historisch-philosophischen Kontext. | |
| Dem rhetorischen Charakter des Bands – die Buchfassung der | |
| Robert-Selley-Lectures, die Honneth im Mai 2017 in Cambridge hielt – | |
| verdankt sich, dass das flüssig geschriebene Werk auch für Nichtphilosophen | |
| gewinnbringend zu lesen ist. Die (wissenschafts-)historische Anlage | |
| bedeutet auch nicht, dass Honneths Buch langweilig oder für aktuelle Fragen | |
| nicht recht zu gebrauchen wäre. | |
| Seine eigene, an Hegel angelehnte Definition von Anerkennung: „Nur dadurch, | |
| dass wir uns wechselseitig als Personen anerkennen, denen die Autorität | |
| zukommt, je für sich über die Legitimität der gemeinsam geteilten Normen | |
| mitbefinden zu können, schaffen wir die Voraussetzung für eine normativ | |
| regulierte Koexistenz unter uns Menschen“ klingt nicht nur wie das | |
| Gegenstück zu [3][Jürgen Habermas’ Idee vom Verfassungspatriotismus]. | |
| Bei dem einen tritt in Gestalt des Staatsbürgers der Mensch als | |
| politisches, bei Honneth tritt er als soziales Wesen auf. Seinem | |
| akademischen Lehrer, bei dem er sich 1990 habilitierte, hat der | |
| Wissenschaftler dieses Buch gewidmet. | |
| Ohne es zu erwähnen, legt die Formel auch die Defizite unserer | |
| (Diskurs-)Kultur offen: Die Reziprozität des Anerkennungsakts ist da unter | |
| die Räder der Verachtung gekommen. So wie hier die „Bedingung der | |
| Möglichkeit“ erodiert, sich selbst als Subjekt zu erkennen und Gesellschaft | |
| zu bilden, kommt einem die „ungestüme Aktivität unserer Eigenliebe“ | |
| (Rousseau) auf Instagram & Co. harmlos vor. | |
| 17 Aug 2018 | |
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| [1] /300-Geburtstag-von-Jean-Jaques-Rousseau/!5090486 | |
| [2] https://blogs.taz.de/stilbruch/2018/04/22/immanuel-kant-aufklaerung-seiltae… | |
| [3] /Habermas-wird-80/!5161236 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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