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# taz.de -- Habermas wird 80: Die Trümmerfrau der Philosophie
> Jürgen Habermas wird 80. Er erlebte noch den Nationalsozialismus,
> befreite die "Dialektik der Aufklärung" von ihrer resignativen
> Perspektive und wurde zum Projektleiter der Moderne.
Bild: Herzlichen Glückwunsch, Herr Habermas!
Wie nähert man sich einem Giganten? Wie wird man ihm gerecht? Im Fall von
Jürgen Habermas wohl überhaupt nicht.
Man kann nur versuchen, sich einen Weg durch sein monumentales Werk zu
bahnen - oder eher einen Trampelpfad. Der vorliegende nimmt seinen Ausgang
bei einem kurzen autobiografischen Text über seine Anfänge in und mit der
Frankfurter Schule - also seine Zeit als Assistent von Theodor W. Adorno
Ende der Fünfzigerjahre - mit dem schönen Titel " Die Zeit hatte einen
doppelten Boden".
Dort schreibt Habermas, es gehe darum, "die Substanz der eigenen großen
Traditionen auf dem einzig möglichen Wege - durch die unerbittliche Kritik
an deren Entstellung" zu retten. Während Adorno und Max Horkheimer im
Angesicht des Nationalsozialismus resignativ die "Dialektik der Aufklärung"
festgehalten haben, unternimmt es Habermas, nach "dieser unvergleichlichen
Verletzung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit" jene Traditionen
zu bergen, die der moralischen Katastrophe standhalten.
Nach der dekonstruktiven Kritik der "alten" Frankfurter trat Habermas an,
um trotz ihrer destruktiven Dialektik eine Basis für das Aufklärungsprojekt
zu finden, es nach seinem Scheitern wiederherzustellen - eine Trümmerfrau
der deutschen Philosophie gewissermaßen.
Nach Auschwitz galt es, den abgerissenen Faden wieder aufzunehmen, die
besseren Traditionen zu retten. Nicht im Sinne einer Verdrängung, sondern
gerade eingedenk der Katastrophe durch eine kritische Aneignung der
Bestände. Das hieß, alle Negierungen zu bewahren, die die
fortschrittsoptimistischen Kategorien erfahren haben, und sie dennoch -
gewissermaßen "kontrafaktisch", wie ein zentraler Habermas'scher Begriff
lautet - wiederherzustellen.
Die kulturelle Erbschaft galt es, kritisch aufzuarbeiten - und sie gerade
dadurch anzutreten. Diese Anstrengungen der Dialektik führten dazu, dass
für den großen Kritiker der Postmoderne das Präfix "post" selbst
symptomatisch wurde. Das "unvollendete Projekt der Moderne" ließ sich nur
dann weiterführen, wenn die Kategorien der Aufklärung - Vernunft, Subjekt,
Gesellschaft - nunmehr als postkonventionelle, posttraditionale,
postnationale reformuliert werden. Nur so konnten sie wieder ins Recht
gesetzt werden und gegen immer neue Angriffe verteidigt werden.
Die erste zentrale Begriffsbaustelle war die zur Vernunft. Der Begriff
Vernunft war schwer angeschlagen. Er sollte, instrumentell, maschinell
verstanden, die Schuld am Scheitern der Aufklärung tragen. Eine große
Hypothek. Andererseits brauchte das Projekt der Moderne, das sich nicht
mehr durch Traditionen legitimieren kann, die Vernunft, um sich aus sich
selbst heraus zu begründen. Die "Theorie des kommunikativen Handelns", die
nun vor schon 28 Jahren erschien, war der philosophische Befreiungsschlag,
mit dem Habermas die Rationalität aus dieser Sackgasse herausführen wollte.
Es war eine Rettung wie bei einer Ballonfahrt: Man steigt auf, indem man
Gewicht abwirft. Jene Rationalität, der es nur um die Verfügung geht -
übers Subjekt, über die Natur -, wird aus dem Aufklärungsprojekt
aussortiert. Für diese stimmt das Verdikt der Dialektik der Aufklärung.
Aber durch diese Entsorgung gewinnt Habermas eine ganz andere Form der
Vernunft - jene kommunikative Rationalität, die das gesamte Unternehmen der
Moderne nach ihrem Scheitern noch mal retten soll. Die kommunikative
Rationalität ist eine, die der Gefahr ihrer Verabsolutierung entgeht, eben
weil sie nicht im einzelnen Subjekt verankert ist, sondern in der
Verständigung.
Der Clou: Statt um Erfolg geht es hier um die Erzeugung von Einverständnis.
Damit sind wir aber bereits bei der zweiten Baustelle, beim Begriff des
Subjekts, und die Trümmer, die diese zupflastern, sind keineswegs kleiner.
Gerade um das Subjekt sieht es ziemlich traurig aus nach all den Attacken,
denen es sich ausgesetzt sah. Wer hat sich nicht alles daran abgearbeitet,
das bürgerliche Subjekt zu dekonstruieren, zu dezentrieren, zum
Verschwinden zu bringen. Von Niklas Luhmann über Jacques Derrida und
Michael Foucault bis weit hinein in die marxistische Linke eines Louis
Althusser wurde der Begriff des autonomen Subjekts bekämpft.
Völlig zerpflückt wurde es einem subjektlosen, einem geschichtlichen
Prozess zugeordnet, in dem die Vorstellung, es sei der Autor des
Geschehens, nur noch eine perspektivische Illusion war. Habermas musste
hier also einen Mehrfrontenkampf aufnehmen, um diese Angriffe abzuwehren,
der 1984 in dem Buch "Der philosophische Diskurs der Moderne" seinen
Höhepunkt fand.
(In diesen permanenten Auseinandersetzungen liegt vielleicht auch der
Grund, dass Habermas gleichermaßen moralische Autorität und
Machtinstitution ist. Eine Widersprüchlichkeit, die den jungen Slavoj Zizek
einmal von Habermas' "Fußnotenpolitik" stöhnen ließ, die wie der
cäsaräische Daumen über die Anerkennung von Theoretikern entscheide. In
einer Habermas'schen Fußnote genannt zu werden, käme einer Nobilitierung
gleich, ungenannt zu bleiben hingegen sei ein vernichtendes Urteil.)
Habermas brauchte für seine kommunikative Vernunft ja unbedingt ein
kommunikativ handelndes Subjekt. Der Wiederaufbau hat dann etwas ergeben,
was wieder ein Subjekt war, das aber nicht mehr ganz im Zentrum stand. Wir
alle kennen Habermas' Unterscheidung von System (wie Wirtschaft, Geld und
staatliche Administration) und Lebenswelt sowie das berühmte Wort von der
"Kolonisierung der Lebenswelt" durch die systemischen Mächte. Die
einseitige ökonomische und bürokratische Rationalität lasse das
Zusammenleben verkümmern - während die lebendige Kommunikation, die
Interaktion kommunikativer Subjekte, wie deren Abwehr funktioniere.
Dieses zweistufige Gesellschaftskonzept beinhaltet eine ganze Reihe von
Szenarien, die alle dieselbe Grundstruktur aufweisen: ob "ideale
Sprechsituation" oder "herrschaftsfreier Diskurs"- all das sind nicht bloße
Fiktionen, wie Kritiker es ihm oft vorgeworfen haben, sondern bewusst
kontrafaktische Unterstellungen. Bei solchen darf man aber die "faktische
Kraft des Kontrafaktischen" nicht übersehen, also die Möglichkeit, das
Unterstellte eben damit auch hervorzubringen. Autonomie, wirkliche
Verständigung, Diskursivität, ja selbst die Mündigkeit des Bürgers
entstehen quasi performativ. Damit bekommt das Habermas'sche Unternehmen
auch eine pädagogische Seite.
Interessant ist, dass eben solch eine Operation mit der Unterstellung beim
französischen Theoretiker Jacques Lacan zur Unterwerfung führt, während sie
bei Habermas in Freiheit münden soll! Jene Freiheit, die er für seinen
Demokratiebegriff braucht, den er aus den Trümmern von Partizipation,
Öffentlichkeit und Deliberation zu bilden versucht. Das geht so weit, dass
er sogar eine "Post"-Variante für Patriotismus anbietet.
Im Kontext des sogenannten "Historikerstreits" Ende der Achtzigerjahre
präsentierte Habermas mit dem Konzept vom Verfassungspatriotismus das einer
postkonventionellen politischen Identität. Er transformierte das verwundete
Nationalgefühl in ein kritisches Substitut: Verfassungspatriotismus ist ein
radikal entsubstantialisierter Patriotismus, der jenseits von Abstammung
und Sprache einen Modus der Zugehörigkeit zu Gesellschaften zu denken
versucht.
Habermas' neueste große Baustelle ist die Religion, wo er neuerlich
versucht, eine das Religiöse rettende Säkularisierung zu konzipieren: die
postsäkulare Gesellschaft, die einer "entgleisenden Moderne" Einhalt
gebieten soll. Horkheimer bezeichnete den ganz jungen Habermas als den
"dialektischen Herrn H.".
Dieser ist dem Diktum treu geblieben.
ISOLDE CHARIM, 50, Publizistin und Philosophin (u. a. "Der
Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie", 2002), lebt in Wien
18 Jun 2009
## AUTOREN
Isolde Charim
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Jacques Derrida
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