| # taz.de -- Philosophie des Neuen Realismus: Die weiten Felder des Sinns | |
| > Markus Gabriel lehnt die Welt ab. Als Begriff zumindest. In „Sinn und | |
| > Existenz“ argumentiert er dafür, warum es auch ohne geht. | |
| Bild: Der Globus und das Schiffchen hier, sie existieren | |
| Totalität ist eine heikle Sache. Wer bei der Beschreibung dessen, was es | |
| gibt, Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, redet schnell schon mal von | |
| Dingen, über die er – der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis halber – | |
| eigentlich keine zuverlässige Auskunft geben kann. Das Universum ist ja | |
| auch recht groß. | |
| Für den Philosophen Markus Gabriel steht daher fest, dass die Welt, | |
| verstanden als absolute Totalität dessen, was existiert, selbst nicht | |
| existiert. Warum das so ist, hat Gabriel vor drei Jahren in seinem | |
| Bestseller „Warum es die Welt nicht gibt“ in populärwissenschaftlicher Form | |
| beschrieben. Mit „Sinn und Existenz“ geht er derselben These jetzt um | |
| einiges ausführlicher – und akademischer – nach. | |
| Markus Gabriel ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden als der | |
| jüngste Philosophieprofessor Deutschlands. Mit 29 Jahren trat er 2009 seine | |
| Professur für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn an. Er gilt als | |
| einer der Hauptvertreter des „Neuen Realismus“, einer Strömung, der auch | |
| der Franzose Quentin Meillassoux, der Italiener Maurizio Ferraris und der | |
| Berliner Armen Avanessian zugerechnet werden. Im Kern geht es um eine | |
| Rehabilitierung der Wirklichkeit als etwas, das es tatsächlich – und nicht | |
| bloß als Konstruktion des menschlichen Bewusstseins oder gar als geistige | |
| Illusion – gibt. | |
| Für Gabriel markiert der Neue Realismus zudem einen Wendepunkt im | |
| philosophischen Denken, das sich im 20. Jahrhundert zunehmend zu zwei | |
| Blöcken verhärtet hatte: der analytischen Philosophie mit ihrer Fixierung | |
| auf Logik und Sprachanalyse einerseits und der kontinentalen Philosophie | |
| andererseits, unter der man praktisch sämtliche nicht angelsächsischen | |
| europäischen Strömungen der Philosophie zusammenfasste, wobei oft vor allem | |
| Postmoderne, Dekonstruktion und Poststrukturalismus gemeint waren. Diese | |
| zwei einst unversöhnlichen Traditionen haben sich laut Gabriel als | |
| Unterscheidung heute erledigt. | |
| Gabriel verfolgt in seinem Buch ein zum Teil negativ motiviertes Projekt, | |
| wie man es vornehmlich aus der analytischen Richtung kennt. Denn er will | |
| nicht allein den Begriff der Welt abschaffen, sondern am liebsten einige | |
| altehrwürdige Teildisziplinen der Philosophie wie die Metaphysik gleich | |
| mit. Schließlich beruhe die Metaphysik als „Theorie der Totalität all | |
| dessen, was existiert“, auf nichts Geringerem als einem Denkfehler. | |
| Dieser Metaphysikzertrümmerung setzt er einen positiven Entwurf entgegen. | |
| Sein Konkurrenzvorhaben zur Metaphysik als „Theorie der Welt“ sind die | |
| „Grundlinien einer Sinnfeldontologie“. Damit verfolgt er eine Theorie der | |
| Existenz – früher sagte man „Sein“ dazu –, die sich von der Idee | |
| verabschiedet, es gebe so etwas wie eine „vereinheitlichende Totalität“ | |
| dessen, was existiert. Wissen kann für Gabriel eben nicht vereinheitlicht | |
| werden, sondern bewegt sich stets auf lokaler Ebene. | |
| ## Weg mit den Weltbildern! | |
| Gabriel hat dabei überhaupt keine Probleme damit, dass es Dinge gibt. Auch | |
| die Aussicht, dass es mehr Dinge gibt, als wir erkennen, beschreiben oder | |
| sonst zur Kenntnis nehmen können, schreckt ihn nicht. Er weigert sich | |
| lediglich, für die theoretisch unendlich große Zahl von Dingen das Wort | |
| „Welt“ zu verwenden. Stattdessen benutzt er griffige Labels wie | |
| „Keine-Welt-Anschauung“ oder „ontologischer Pluralismus“. | |
| Seine beiden Gewährsleute sind die Philosophen Immanuel Kant und Gottlob | |
| Frege. Auffällig an Gabriels Umgang mit den Kollegen ist eine tendenziöse | |
| Lesart dieser Denker. Wenn er etwa Frege ohne Vorwarnung eine – das heißt | |
| seine eigene – Theorie der Sinnfelder unterschiebt, dürfte dies manchen | |
| Frege-Exegeten in großes Erstaunen versetzen. | |
| Gabriels Konzept des ontologischen Pluralismus, den er um den Begriff des | |
| Sinnfelds entwickelt, zielt auf eine Interpretation von „Existenz“ als eine | |
| „Eigenschaft von Sinnfeldern“, verstanden als die „Eigenschaft, dass etwas | |
| in ihnen erscheint“. Das ist ein Versuch, das große Thema Existenz | |
| herunterzubrechen auf lokale Wissenseinheiten, die sich geistig halbwegs | |
| handhaben lassen. Und aus denen keine Weltbilder gezimmert werden können. | |
| Denn die „‚Zeit des Weltbildes‘“ mit ihren „schädlichen Denkformen�… | |
| man, so Gabriel, besser hinter sich lassen. | |
| ## Verkürzter Metaphysikbegriff | |
| Grundsätzlich lässt sich gegen Gabriels Ablehnung der Metaphysik als | |
| „Welt“-Theorie einwenden, dass der von ihm zugrunde gelegte | |
| Metaphysikbegriff arg verkürzt ist. Ebenso erstaunt es, dass Gabriel einen | |
| Philosophen wie Emmanuel Lévinas unerwähnt lässt. Dessen Hauptwerk, | |
| „Totalität und Unendlichkeit“, weist in seiner Ablehnung des | |
| Totalitätsgedankens durchaus Berührungspunkte mit Gabriels Verabschiedung | |
| von Weltbildern und ihren totalitären Tendenzen auf. | |
| Auch die sprachliche Darstellung lässt bei Gabriel einiges zu wünschen | |
| übrig. Dass er sich gegen „absolute Klarheit“ – worin auch immer die | |
| bestehen mag – ausspricht, sollte kein Freibrief für schlampige | |
| Formulierungen sein: Der Sinn eines Satzes wie „Dies bedeutet, dass falsche | |
| Gedanken mindestens inferentiell über implizierte Beschreibungen mit den | |
| Gegenständen in Verbindung stehen, die sie für so-und-so halten, während | |
| sie anders sind“, erschließt sich auch bei wohlwollender Lesart kaum. Will | |
| Gabriel ernsthaft sagen, dass Gedanken ihre Gegenstände „für so-und-so | |
| halten“, dass Gedanken mithin so etwas wie Bewusstsein haben? | |
| Gabriels Stärke liegt in markigen Thesen wie „Der Realismus macht sich kein | |
| Bild von der Welt mehr.“ Im Detail gibt es noch viel zu klären, wenn der | |
| Neue Realismus mehr sein soll als ein gut klingendes Etikett. | |
| 8 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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