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# taz.de -- Buch über die Epoche der Frühaufklärung: Wie die Vernunft denken…
> Eine umfangreiche Textsammlung dokumentiert den Weg zur europäischen
> Aufklärung – und versucht die komplexe Epoche begreifbar zu machen.
Bild: „Sapere aude!“ bringt die Aufklärung auf den Punkt? Nicht ganz
Kants berühmte Formulierung „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus
seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (1783) verführt zum Schluss, es
handele sich [1][bei der Aufklärung] um eine leicht verständliche und
schnell abzuhandelnde Angelegenheit.
Die 1.000 Seiten starke Darstellung der „Radikalen Frühaufklärung in
Deutschland“ des Erfurter Philosophiehistorikers Martin Muslow belegt
allerdings in zwei Bänden, dass die Herausbildung der Aufklärung in der
Zeit von 1680 bis 1720 ein ebenso unübersichtlicher wie komplexer Prozess
ist, der mit der Klarheit und Eindeutigkeit suggerierenden Gleichung
„Modernisierung“ plus „Säkularisierung“ = „Aufklärung“ nicht einm…
ansatzweise, geschweige denn präzis zu fassen ist.
Der Autor stützt sich auf rund 200 Schriften von unbekannten oder
vergessenen Autoren. Es handelt sich um gedruckte, anonym erschienene,
verbotene und überhaupt nur als Manuskript vorhandene Texte, die in
Abschriften kursierten und sich im protestantischen Nord- und
Ostdeutschland in Bibliotheken erhalten haben. Die Texte behandeln
philosophische und theologische Themen, aber auch juristische und
naturwissenschaftliche.
Neben Schriften mit wissenschaftlichem Anspruch sind darunter auch
Provokationen und Pamphlete mit kritisch-ironischem und
scherzhaft-verspottendem Charakter. Das Wort „radikal“ im Titel weist
darauf hin, dass viele, aber keineswegs alle Schriften religionskritisch
waren, einige auch apologetisch-orthodox oder moderat-religiös.
## Von „Ketzermachern“ und „Radikalisierern“
Die Auseinandersetzungen mit Religion und Theologie, ob in kritischer,
apologetischer oder moderater Absicht, bedeutet allerdings nicht, dass sich
Autoren und Texte auch als politisch verstanden. Die Beschäftigung mit
Religion umfasste inhaltlich eine große Bandbreite vom orthodoxen und
moderaten Luthertum und mehr oder weniger striktem Pietismus bis zum
Atheismus und zu alchemistisch-hermetischer Scharlatanerie.
Vertreter aller Richtungen bildeten in den 40 Jahren von 1680 bis 1720
ebenso vielfältige wie unübersichtliche Formen von Radikalität aus,
verstanden sich aber als „eklektische“ Philosophen (Christoph Sturm
1635–1703) und bewegten sich auf einem Mittelweg („via media“) zwischen
Vernunft und Aberglaube. Freilich agierten orthodoxe Verteidiger des Status
quo oft heftig selbst auf zaghafte Religionskritik und wirkten förmlich als
„Ketzer-“ und „Radikalenmacher“.
An zahlreichen Beispielen kann Muslow demonstrieren, dass die
verschlungenen Wege und „Umwege, die die Herausbildung dessen, was sich
später ‚Aufklärung‘ nannte“, aus dem Streit zwischen orthodoxen
„Ketzermachern“ und religionskritischen „Radikalisierern“ hervorgehen.
## Kriminalistische Akribie
Ein Grundzug der Frühaufklärung war ihre Ambivalenz, was die politischen
Implikationen ihrer Schriften und Traktate betrifft. Ein Beispiel ist der
Kieler Theologieprofessor Daniel Georg Morhof (1639–1691). Er sah in der
Politik keinen Hebel für die Säkularisierung und wollte die „Göttlichkeit
der königlichen Macht“ beweisen. Er verstand den König als „Heiler“ der
Pervertierung und Korruption der Macht zum Götzendienst („Idolatrie“): „…
wünschen uns ernsthaft, dass wir alle Fürsten als Heilige haben – durch die
das öffentliche Heil (salus publica) wiederhergestellt wird und die
Skrofeln der Kirchen, der Staaten und der Scholaren als unnütze Last […]
beseitigt werden.“
Schüler von Christian Thomasius dagegen wandten sich entschieden gegen ein
„göttliches Recht“ („ius divinum“) und plädierten für die Trennung v…
Theologie und Wissenschaft, Glaube und Recht.
Mit kriminalistischer Akribie spürt Martin Mulsow Herkunft und Verbreitung
von anonymen Handschriften auf. Anfang des 18. Jahrhunderts tauchten in
Hamburg, Dresden, Leipzig und Gotha Abschriften eines Textes des „Judaeus
Lusitanus“ („Der portugiesische Jude“) auf. La Croze, der Bibliothekar des
preußischen Königs, bekam 1709 ein Exemplar in die Hand und begann mit der
Übersetzung, die er vorsichtshalber verbrannte, weil der Text voller
Blasphemien war. „Der portugiesische Jude“ bestritt die Göttlichkeit von
Jesus Christus, die Lehre von der Dreieinigkeit (Trinität) und die
Jungfrauengeburt.
## Ein abenteuerlicher Weg
Moses Raphael d’Aguilar (gest. 1679), ein spanischer Jude, war der Lehrer
des vermutlichen Autors der anonymen Handschrift und verfasste eine
Schrift, in der er die Grundlagen des Christentums als vernunft- und
bibelwidrig darstellte. Samuel Crell (1660–1747) betrieb in Amsterdam einen
Handel mit Manuskripten und war an einer Übersetzung ebenso interessiert
wie Bibliothekare und Raritätensammler in Bern, im Waadtland, Hamburg und
Frankfurt, womit die „clandestine Karriere“ des Manuskripts begann, das
heißt der Weg in die atheistische Aufklärung.
Crell war Anhänger der Lehre von Fausto Sozzini (1539–1604), das heißt des
Sozinianismus, einer vor allem in Polen verbreiteten Sekte, die die
Trinitätslehre und die Göttlichkeit von Jesus Christus bestritt und eine
rationalistische Bibelinterpretation vertrat.
Wie abenteuerlich der Weg zur Aufklärung verlief, zeigt die Geschichte der
Schrift „De tribus impostoribus“ (1688 „Über die drei Betrüger“) – …
waren Moses, Jesus Christus und Mohammed, die Väter von Judentum,
Christentum und Islam. Die Pointe: Ein Student kopierte im Haus des
protestantisch-orthodoxen Hauptpastors Johann Friedrich Mayer (1650–1712)
in Hamburg das Manuskript des Juristen Johann Joachim Müller, der seinen
Freund Mayer satirisch „an einer Hakennase aufspießen“ wollte mit einer
spöttisch-unernst gemeinten Satire, wie sie unter Theologen und Juristen
üblich war.
Seit der Antike werden Satyrn mit Hakennase dargestellt. Die Grenze
zwischen Spott und Ernst blieb allerdings ambivalent, weil man aus Müllers
scharfsinnigem Text die Konsequenz ziehen konnte, dass Religionen lügen und
betrügen würden und folglich nur der Ausweg aus der Notlage bleibe, alle
Religionen rational und mit gleicher Akribie auf ihre Glaubwürdigkeit zu
überprüfen.
Oder kürzer und schroffer, die Basis für Skepsis legend: Wir können Gott
rational nicht begreifen, also gibt es ihn nicht. Ein akademischer Spaß
konnte so den ersten Schritt zur Radikalisierung von Religionskritik
bilden. Ernsthafte und dauerhafte Zweifel an der Religion übertrafen den
kurzlebigen Spott. Auch die Schrift „Über die drei Betrüger“ machte eine
beachtliche Karriere im klandestinen Untergrund des protestantischen
Europa.
Bereits 1680 erschien unter dem Titel „Symbolum sapientiae“ („Wahrzeichen
der Wissenschaft“) anonym eine Schrift, die die Kritik an Götzendienst und
Aberglauben zur Kritik an Religion überhaupt radikalisierte: „Nullum inter
religionum et superstitionem esse discrimen“ („Es gibt keinen Unterschied
zwischen Religion und Aberglauben“). Die Argumentation verrät den Autor als
Leser der Schriften von Hobbes, Spinoza und Bayle, den markantesten
Vertretern der politischen Theologie in Richtung eines
religionsindifferenten Deismus/Pantheismus, der nicht mehr Menschen mit
exklusivem Glauben verpflichtet ist, sondern allen mit „natürlicher
Vernunft“ ausgestatteten Menschen.
Die Frühaufklärung spaltete sich in eine skeptische Aufklärung und eine
konservative Aufklärung, wobei die Grenzen zwischen beiden nicht scharf zu
ziehen sind. Das trifft auch auf die zahlreichen Konzepte zum Naturrecht
und dessen Verhältnis zu Religion und Theologie zu.
Die überwältigende Materialfülle macht die Lektüre der beiden Bände nicht
gerade einfach. Es fällt auch nicht leicht, der manchmal etwas
barock-umständlichen Argumentation des Autors zu folgen. Aber an der
Bedeutung des eindrücklichen Werks ändert das nichts.
28 Nov 2018
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## AUTOREN
Rudolf Walther
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