# taz.de -- Buch über Religion: Die Götter umgeben dich | |
> Ein Buch wie eine Meditation. In Objekten, in Verhältnissen und in uns | |
> selbst: Der Bestsellerautor Neil MacGregor zeigt, was Religion alles ist. | |
Bild: Ein einfaches Souvenir: eine Jungfrau Maria, die Züge mexikanischer Eing… | |
Kaum ein anderes Buch kommt dem Fest, an dem es verschenkt werden könnte, | |
so nahe wie dieses: Weihnachten. Dieses – nicht von der Christenheit – | |
weltweit gefeierte Sonnenwendfest war ursprünglich heidnischen Ursprungs | |
und über Jahrhunderte von den Kirchenoberen keineswegs anerkannt. | |
Der Autor des soeben erschienenen Prachtbands „Leben mit den Göttern“, der | |
1946 geborene britische Kunsthistoriker Neil MacGregor, war kurze Zeit | |
Gründungsintendant des umstrittenen Berliner Humboldt Forums und hat jetzt | |
ein Buch vorgelegt, das sich mit den Themen eines anderen berühmten | |
Berliners, Daniel Friedrich Schleiermachers, dessen 250. Geburtstag | |
kürzlich begangen wurde, schneidet. | |
Gott, Götter, Religion? Was soll das? Schleiermacher publizierte 1799, im | |
zu Ende gehenden Zeitalter der Aufklärung seine seither viel gelesene | |
Schrift „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ | |
und leitete damit auch die Romantik ein. In den „Reden“ ging es ihm zuletzt | |
darum, nachzuweisen, dass „Religion“ weder als moralische Weisung noch gar | |
als Form der Welterklärung zu verstehen ist. | |
## Sinn und Geschmack fürs Unendliche | |
Was aber bleibt von der Religion, wenn sie weder die Entstehung der Welt | |
oder den Lauf der Geschichte erklären kann, noch gar der Tugendförderung | |
und Moral dient? Schleiermachers berühmte Formel lautete 1799: „Religion, | |
das ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ Wer nach Beispielen für die | |
damit beanspruchte Erfahrung sucht, muss sich lediglich an die Bilder | |
Caspar David Friedrichs halten. | |
Bilder – sie sind auch die Leidenschaft Neil MacGregors, der als | |
langjähriger Direktor der Londoner National Gallery sowie des British | |
Museum in den letzten Jahren Bestseller wie den Band „Eine Geschichte der | |
Welt in hundert Objekten“ oder die Studie „Deutschland. Erinnerungen einer | |
Nation“ vorgelegt hat. Er befasst sich jetzt – ganz im Sinne | |
Schleiermachers – mit der „Religion“. | |
Sein soeben erschienener Band „Leben mit den Göttern“ entfaltet, reich | |
bebildert und bestens lesbar, auf mehr als 500 Seiten nicht mehr und nicht | |
weniger als eine globale Religionsanthropologie und -soziologie über | |
Jahrtausende, Länder und Kontinente hinweg: Das erste Beispiel, das er | |
präsentiert und auch fotografisch abbildet, ist vierzigtausend Jahre alt, | |
eines der letzten gerade mal zwei Jahre. | |
Während die erste Abbildung die aus einem Mammutzahn gefertigte Statuette | |
eines „Löwenmenschen“ zeigt, weist das zweite Bild auf ein Kreuz der | |
Londoner St Paul’s Cathedral aus dem Jahre 2016 hin: Es erinnert, aus | |
Wrackteilen gefertigt, an die Geflüchteten und Ertrunkenen im Mittelmeer – | |
ein Lampedusa-Kreuz. | |
Schon vor Jahren mussten Zeitdiagnostiker und Soziologen eher widerwillig | |
einbekennen, dass die Menschheit gegenwärtig in einem postsäkularen | |
Zeitalter lebt, dass Religion derzeit Politik und Gesellschaft in einem | |
Maße umtreibt, wie sich das Max Weber, der um die vorige Jahrhundertwende | |
von der unaufhaltsamen „Entzauberung der Welt“ schrieb, nicht hatte träumen | |
lassen. | |
Religion, nichts anderes will uns MacGregor in konzisen Erklärungen und mit | |
Hunderten brillanten Bilden beweisen, hat das Leben der Menschen seit jeher | |
geformt, begleitet und tut dies auch jetzt noch immer. Religionen | |
strukturieren den zeitlichen Ablauf des menschlichen Lebens, seine Tages-, | |
Wochen- und Jahresrhythmen, den Wechsel von Alltag und Fest, von Geburt und | |
Tod. | |
## Vom Olymp bis zum Christentum | |
Nur Religionen gelingt es, den Umstand, dass Menschen mit den Toten leben, | |
sinnvoll zu umrahmen und Gemeinschaft zu stiften. Dabei mögen die Göttinnen | |
und Götter, die Gottheiten so unterschiedlich sein, wie nur denkbar: von | |
guten Geistern, Dämonen über die Bewohnerinnen des Olymp bis zu einem – | |
ggf. dreifaltigen – Gott von Judentum, Christentum und Islam reicht das | |
Panorama, vom Bilderverbot bis zum Kruzifix. | |
Auch in dieser Hinsicht trifft sich McGregors bebilderte | |
Religionsanthropologie mit Friedrich Schleiermacher, freilich nicht mehr | |
mit dem Befürworter des Unendlichen, sondern dem psychologisch geschulten | |
christlichen Theologen. | |
Schleiermacher, der als Theologieprofessor künftige christliche Pfarrer | |
auszubilden hatte, ist bald klar geworden, dass mit seinem naturfrommen, | |
romantischen Religionsbegriff das Spezifikum jedenfalls der christlichen | |
Religion verfehlt würde, weshalb er in späteren Vorlesungen (1821/22) eine | |
andere Bestimmung des religiösen Bewusstseins vornahm: Es handle sich um | |
„das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ – eine Bestimmung, die sich … | |
des Soziologen Niklas Luhmanns Formel von Religion als „Praxis und Semantik | |
der Kontingenzbewältigung“ allenfalls durch ihre Terminologie und ihre | |
bewusstseinstheoretische Ausrichtung unterscheidet. | |
## Wer gehört zur Gemeinschaft? | |
MacGregor aber stellt die Fragen, auf die sein Buch antworten soll, so: | |
„Wie organisiert sich eine Gesellschaft, um zu überleben? Welche Opfer kann | |
eine Gesellschaft angemessenerweise vom Einzelnen im Dienste eines höheren | |
Gutes erwarten? Vor allem aber: Wer gehört zu der Gemeinschaft, die wir | |
„Wir“ nennen?“ Welche Antworten auf diese Fragen lassen sich etwa der | |
Statuette des 40.000 Jahre alten Löwenmenschen entnehmen? | |
Der Autor zitiert im ganzen Buch klare Sätze ihm bekannter Experten, in | |
diesem Fall einer Expertin für Vor- und Frühgeschichte aus dem British | |
Museum: „Es muss eine Erklärung oder ein Ritual gegeben haben, die diese | |
Statue begleiteten …“ In dieser Region, so die Expertin weiter, seien ja | |
auch aus Vogelknochen gefertigte Flöten ebenso hohen Alters gefunden | |
worden: „Wir wissen, dass die Menschen dieser Region damals auch Musik | |
machten und Musik hörten. […] All diese Gegenstände handeln von gemeinsamer | |
sozialer Aktivität, aber sie sollen uns auch in eine andere Sphäre | |
versetzen …“ | |
So umfassend der bildliche und theoretische Überblick von McGregors | |
Darstellung ist, einer Darstellung, die Fest und Alltag, Geburt und | |
Gebären, Tod und Sterben, Musik, Zeit und Ritual abhandelt, so sehr fällt | |
freilich eine Leerstelle auf: die Sexualität, die sie begleitende Lust, das | |
Begehren. | |
Weder zitiert er das „Hohe Lied Salomonis“, noch zeigt er drastische | |
bildliche Darstellungen aus den Hindu-Religionen, etwa Abbildungen des | |
Geschlechtsverkehrs aus dem „Kamasutra“. Dass auch das zwischenmenschliche | |
Begehren religiös gedeutet wurde, übergeht McGregor – unbewusster Rest | |
eines doch sehr englischen Puritanismus? | |
Diesem Autor geht es eher um Gemeinschaft, weshalb er sein Panorama mit | |
einer spätmittelalterlichen Marienfigur illustriert, die nicht weit weg vom | |
Fundort des „Löwenmenschen“ – in der Nähe von Ulm – gefunden und um 1… | |
gefertigt wurde: Die Falten ihres weiten, schützenden Mantels – so | |
MacGregor – „bergen Vertreter einer ganzen Gesellschaft: Männer und Frauen | |
verschiedenen Alters und verschiedener Art, die alle entweder beten oder | |
bange hervorschauen … Viel größer dargestellt als ihre Schützlinge, ist sie | |
die fortlaufende Geschichte, eine bleibende Institution, die sie alle | |
umfängt und überdauern wird.“ | |
Terminologisch hat die neuere protestantische Theologie mit Bezug auf die | |
Kirchenväter und die reformatorischen Schriften der „Religion“ den | |
„Glauben“ entgegengestellt, womit es der Theologie zudem möglich wurde, | |
sich das ganze Panorama atheistischer Religionskritik – von Feuerbach über | |
Marx zu Freud – ohne große Umstände anzueignen. | |
## Religion ist Unglaube | |
Es war der politisch weit links stehende, reformierte Schweizer Theologe | |
Karl Barth (1886–1968), der dem Soupçon und dem Protest gegen das | |
kulturprotestantische Frömmigkeitsverständnis, jene von Thomas Mann so | |
genannte „machtgeschützte“ Innerlichkeit, das noch heute frappierende | |
Schlagwort gab: „Religion ist Unglaube“. Oder anders: Wenn „Religion“ d… | |
menschliche Frage ist, so erweist sich als die allein Gott zuzurechnende | |
Antwort nur die „Offenbarung“. Indes: Ist heute irgendjemandem, außer | |
professionellen TheologInnen noch klar, was „Offenbarung“ sein soll? | |
Der anfangs genannte Kulturprotestant Schleiermacher hatte es mit dem als | |
pagan kritisiertem Weihnachtsfest einfacher. In seiner klassischen | |
Erzählung „Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch“ (1806) heißt es: „Wir | |
beschenken einander, weil wir beschenkt wurden“ – mit dem Christkind in der | |
Krippe. | |
MacGregors Buch lädt nicht nur zum Lesen, sondern zum Meditieren ein, | |
genauer: zum innigen, vertiefenden Nachdenken über eine religiöse | |
Bilderwelt, die so bisher kaum in einem Buch zu sehen war. | |
2 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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