Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Philosoph Marcus Steinweg: Der sich in den Rausch redet
> Es ist immer gefährlich, sich mit einem guten Gewissen zu bewaffnen.
> Porträt des Philosophen und Vortragkünstlers Marcus Steinweg.
Bild: Ausschnitt aus der „Map of Friendship of Art and Philosophie“ (Thomas…
Gedanken formen sich beim Sprechen: Darum kreist die Überlegung in Heinrich
von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim
Reden“. Der Philosoph Marcus Steinweg beherrscht diese Praxis ziemlich gut.
Das schnelle, sich mitunter selbst überschlagende Denken und die
hochverdichtete, oft aphoristische Sprache in seinen Büchern sind ein
Markenzeichen des Autors.
Und wohl auch der Grund, warum seine Vortragsreihe „Überstürztes Denken“ …
Roten Salon der Berliner Volksbühne stets so gut besucht ist. Schon der
Titel deutet auf sein Leitmotiv: Denken muss frei bleiben. Frei von
gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen und vor allem vom
akademischen Kanon.
Möglichst unabhängig zu sein ist Steinweg bis heute gelungen, wenn auch
nicht ohne Hürden. Denn bevor er begann, Bücher in renommierten Verlagen
wie Merve und aktuell bei Matthes und Seitz zu veröffentlichen und weltweit
Vorträge zu halten, legte Steinweg einige Etappen zurück.
Eine universitäre Karriere kam für ihn nie infrage, aufgrund der
„Neutralisierung des Denkens“, die ihm dort begegnete: „Ich habe in den
90er Jahren angefangen, in Freiburg Philosophie zu studieren. Dort habe ich
schnell die Erfahrung gemacht, dass es zwar viel zu lernen gibt, aber das
Wissen dazu verführt, dass man nicht selbst denkt“, sagt Steinweg und
schaut ins Leere. Immerhin sei Philosophie doch die ständige
Infragestellung von Informationen.
## Selbst denken
Mit 21 begann er auf Empfehlung seines Professors eine Doktorarbeit, „über
Heidegger und Cézanne“. Doch bereits nach wenigen Monaten verließ Steinweg,
der mit 12 bereits philosophische Bücher las – von Kant bis zu Heideggers
komplexem „Sein und Zeit“ – die Uni. Ohne Abschluss. Er wolle zwar nicht …
einen „luxuriösen Anti-Akademismus verfallen“, aber die Uni diene mehr der
Reproduktion als der Produktion von Wissen. „Aber Philosophie heißt doch
auch, und das klingt jetzt naiv“, sagt Steinweg mit einer Mischung aus
Entzückung und Drohung, „selbst zu denken.“
Dem Studienabbruch folgten diverse Nebenjobs, auf dem Bau, als
Gabelstaplerfahrer, Hauptsache Broterwerb. Währenddessen brachte er erste
Bücher heraus. 1994 erschien „Frakturen“, Steinwegs Debüt. Da er zu diesem
Zeitpunkt noch keinen Verlag hatte, wurde das Buch auf einer Ausstellung
eines befreundeten Künstlers als Kunstobjekt gezeigt.
Steinweg lebte damals in Köln, das in den 90ern ein Zentrum für
Gegenwartskunst war. Dieser Kontext gab ihm die Möglichkeit, jenseits der
Universität philosophisch zu arbeiten, und er schrieb zunächst vor allem
Texte für Ausstellungen. Später studierte er dann doch noch, Kunst. Mit 31
hatte der in Berlin und Paris lebende Denker schließlich das Diplom.
## Seifenblasen und Klebstoff
Heute ist Steinweg einer der wenigen etablierten Philosophen, die für ihr
Schaffen keine institutionelle Legitimation benötigen, was ja im
titelgläubigen Deutschland akademischer Blasphemie gleichkommt. Im Dezember
kehrte er von einer Vortragsreise aus New York zurück und stellte in Berlin
seine neuen Bücher „Inkonsistenzen“ und „Evidenzterror“ vor, in wenige…
einer Stunde.
Es sind kurze, aber hochverdichtete Werke, die aus kleinen Kapiteln über
bestimmte Begriffe bestehen, von „Politik“ über „Seifenblasen“ bis hin…
„Klebstoff“. Über Letzteres schreibt der Autor: „Es gab eine Zeit, in der
man dachte, Metaphysik sei, was sich von der Realität entfernt. Heute
wissen wir, dass Realität eine metaphysische Konstruktion ist. Der
Klebstoff, der ihre Elemente verbindet, kann Geld heißen oder Liebe oder
Gott.“
Steinwegs Bücher versuchen, diesen „Klebstoff“ sichtbar zu machen sowie die
vermeintlichen Gewissheiten unserer Realitäten. Denn eigentlich sind heute
alle Begriffe „toxisch“. Immerhin wurde der Begriff „Freiheit“ vom
Bush-Regime verwendet, um einen Krieg im Irak zu legitimieren.
„Realität ist ein Konsistenzversprechen, das gebrochen wird“, sagt Steinweg
später in der gut besuchten Galerie, in der sich ein Querschnitt der Kunst-
und Theorieszene eingefunden hat: Kunstaffine mit Mänteln und Ohrringen,
bärtige Männer in Denkerpose und StudentInnen, die Bücher wie Waffen in
ihren Jackentaschen tragen.
## Lieblingsthema: Kritik der Kritik
Alle hören gebannt zu, nachdem Steinweg sich erst mal dafür entschuldigt
hat, seine Bücher selbst zu promoten. Dass es auf dem Book Launch auch viel
um Politik geht, hängt damit zusammen, den ständig an ihn herangetragenen
Vorwurf zu entkräften, Philosophie beschäftige sich nicht mit der
„Realität“. „Die Politik erfindet ständig neue Konsistenzversprechen, d…
wir dekonstruieren müssen. In der Finanzkrise 2008 hieß es: Lasst euer Geld
auf euren Konten. Der politisch konservative Appell behauptet immer, dass
es solche Löcher nicht gibt.“
Steinweg ist nach eigener Aussage dezidiert links. Aber dabei alles andere
als dogmatisch. Im Gegenteil. Er steht für die Freiheit des Denkens und
damit auch vermeintlich falscher Gedanken. „Für mich gibt es kein Denken,
das nicht links wäre.“ Rechts denken hieße im Gegenzug gar nicht denken.
Steinweg springt immer wieder vom Abstrakten ins Konkrete, von einem
Kate-Moss-Zitat zu Foucaults „Vulgär-Kulinarismus“, zu dem sich der
französische Philosoph mal mit einem Loblied auf das US-amerikanische
Clubsandwich bekannte. Und dann ist Steinweg, der sich inzwischen in eine
Art kontrollierten Rausch geredet hat, bei seinem Lieblingsthema
angekommen: Kritik an derKritik. Viele Linke seien allzu dogmatisch und
würden kritische Ansichten nur noch reproduzieren, statt sie zu
hinterfragen.
Ein Beispiel: „Jeder kritische Mensch in Berlin kennt das dominante
Narrativ unserer Zeit: männlich, weiß, heterosexuell. Das infrage zu
stellen ist zwar richtig, aber dort stehen zu bleiben, bei der
Schuldzuweisung mit gutem oder schlechtem Gewissen, ist Dekonstruktion
light.“ Dass der Feind identifiziert sei, führe zu „aktivem Nicht-Denken�…
Es sei immer gefährlich, sich mit einem guten Gewissen zu bewaffnen.
## Positionen angreifen
Seine Konsequenz daraus? Er möchte alle Positionen angreifen dürfen. „Ob
die US-amerikanische Außenpolitik, die deutsche Innenpolitik oder
irgendwelche religiöse Gesinnungen. Alles, was sich als konsistent geriert,
es aber nicht ist.“
In einer Zeit, in der sich tollwütige Politiker unter dem Applaus
wohlstandsverwöhnter Rassisten ein geordnetes, ausländerfreies Abendland
erträumen und Kriege von Regierungen als politische Lösungen verkauft
werden, ist Steinwegs Ansatz notwendiger denn je. Denn die uns
vorgeschriebenen Realitäten ständig zu hinterfragen, ist das beste
Instrument, mit dem sich kritische Menschen bewaffnen können.
8 Jan 2016
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Philosophie
Aufklärung
Ägypten
Immanuel Kant
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buch über das Zeitalter der Aufklärung: Habe Mut zu wissen
Mündigkeit, gute Politik und vor allem Vernunft: Steffen Martus erzählt von
der Aufklärung und einem großem deutschen 18. Jahrhundert.
Wahl in Ägypten: Die Freiheit geht unter die Haut
Es sind oft nur wenige Jahre, die Tahrir-Aktivisten von Heranwachsenden
trennen. Doch die Unterschiede zwischen ihnen sind gravierend.
Neues Lexikon: Update für Kant
Das neue Kant-Lexikon erschließt den Philosophen auf 3.000 Seiten. Darunter
sind auch Einträge zu „Hexen“, „Fleischeslust“ oder „Trunkenheit“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.