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# taz.de -- Wahl in Ägypten: Die Freiheit geht unter die Haut
> Es sind oft nur wenige Jahre, die Tahrir-Aktivisten von Heranwachsenden
> trennen. Doch die Unterschiede zwischen ihnen sind gravierend.
Bild: Rund 55 Millionen ÄgypterInnen können erstmals seit 2012 ein Parlament …
Kairo taz | Vielleicht sollten sie die Alten alle töten. Kareem Shaheen
sagt diesen Satz, nachdem er sich in Rage geredet hat. Er sitzt mit seinen
Freunden in einer Kneipe, die den Namen Freiheit trägt. Die Freiheit ist
eine trostlose Trinkhalle in der Nähe des Tahrirplatzes. Das arabische Wort
für Freiheit, horreya, haben die Demonstranten während der Revolution 2011
auf den Straßen der Altstadt skandiert.
Jetzt sitzen diejenigen, die damals zu jung waren, um dabei zu sein, in der
Kneipe, die sich Horreya nennt. Jungen und Mädchen trinken zusammen ihr
Bier und lachen. Die alten Trinker sitzen zwischen ihnen verstreut und
schauen ziemlich verschämt auf ihre Gläser. Es bekümmert sie offensichtlich
noch, dass ihr Laster haram ist, eine Sünde.
Kareem Shaheen ist so etwas wie ein Star der jungen Tätowierszene Kairos.
Seinen Körper hat er in den vergangenen Jahren in ein Kunstwerk verwandelt.
Gemeinsam mit einer italienischen Kollegin betreibt er ein Studio im
Stadtteil Zamalek. Shaheen ist erschöpft. In den Tagen zuvor hat er in
Kairo die erste Tattoo Convention auf die Beine gestellt. Er hatte mit
größerem Andrang gerechnet. Es gebe inzwischen zu viele billige
Straßenstudios, schimpft er, das sei der Nachteil des Hypes.
Die Ärmeren würden sich von Nachbarn die Tinte unter die Haut stechen
lassen mit entsprechend unansehnlichen Ergebnissen. In seinen Augen ein
Sakrileg. Ein Tattoo zu tragen, ist eine Philosophie. „Das ist etwas
Schönes, das immer bei dir ist, bei all der Hässlichkeit um uns herum. Es
zeigt, dass du dein verdammtes Recht zumindest auf der Haut trägst.“
## Das Tattoo-Studio
Als 2011 die Revolution ausbrach, trug Kareem Shaheen bereits ein
Peace-Zeichen auf dem rechten Oberarm. Seine Mutter fand es schön, aber
haram. Heute lebt ihr Sohn von der unislamischen Kunst, und die Mutter
kommentiert es nicht mehr. Vielleicht, weil ihr Sohn auch kaum noch mit ihr
spricht. „Wir haben zwei verschiedene Kulturen in Ägypten“, sagt Shaheen.
„Die Alten kapieren nichts. Am besten wäre es, wenn sie sobald wie möglich
sterben.“
Geht er wählen? „Das geht mich einen Scheiß an. Wir haben hier keine
Rechte. Ich gehöre ohnehin nicht zu Ägypten“, sagt der junge Mann, der sein
Tattoo-Studio Nowhereland – Niemandsland – genannt hat.
Kareem Shaheen drückt in deutlichen Worten aus, was sogar schon der
gleichgeschalteten ägyptischen Presse aufgefallen ist. Die Tageszeitung al-
Ahram beklagte, dass nur noch die Alten zur Wahl gehen würden. In der
ersten Wahlrunde lag die Beteiligung nach offiziellen Zahlen bei gerade
knapp 27 Prozent der Wahlberechtigten. Das Durchschnittsalter der Ägypter
liegt bei knapp 25 Jahren.
Die Reiseführer für Kairo müssen umgeschrieben werden. Galt bisher als
Regel, in der Öffentlichkeit keine Zuwendung zum anderen Geschlecht zu
zeigen, kann man heute Jungen und Mädchen beim Händchenhalten beobachten.
Oder man sieht Frauen allein in einem Kaffeehaus sitzen und Wasserpfeife
rauchen. Während 2011 auch die Revolutionärinnen Kopftuch trugen, ist es
heute Mode, es abzunehmen.
Vor einigen Jahren noch undenkbar, kommt es inzwischen sogar vor, dass
junge Menschen beiderlei Geschlechts sich eine Wohnung teilen. Es sind
nicht wie einst nur die jungen Reichen, die meinen, sie müssten nicht nach
den ungeschriebenen Gesetzen leben. Die Kinder aus der Mittel- und unteren
Mittelschicht fragen nicht mehr, ob sich etwas schickt oder nicht. Sie
studieren an staatlichen Universitäten und haben keine Aussicht auf einen
Job. Für die Familiengründung reicht das Gehalt ohnehin nicht. Viele
träumen vom Auswandern.
„Warum sollten wir uns von unseren Eltern etwas sagen lassen?“, fragt ein
21-Jähriger auf einer Party. „Sie haben uns in diese Situation gebracht und
das Land an die Wand gefahren“, sagt er. Selbstverständlich werde er nicht
wählen gehen. „Das hat mit uns doch gar nichts zu tun.“
## Der schwarze Block
Ibrahim Daoud trägt seine Haare noch so wie früher. Die wilde Mähne hat er
sich wieder wachsen lassen, nachdem ihm die Wärter im Gefängnis den Kopf
geschoren hatten. Am Revers trägt der 24-Jährige einen Button. Es zeigt das
Gesicht eines Freundes, der unter der Präsidentschaft des Muslimbruders
Mohammed Mursi an einer Laterne gehenkt worden ist.
Daoud gehörte 2013 zum sogenannten schwarzen, anarchistischen Block, der
den Tahrirplatz auch mit Gewalt verteidigen wollte: gegen die Polizei und
die Muslimbruderschaft. Sie legten mal die Metro lahm, mal verprügelten sie
Islamisten, dann wieder erklommen sie wie die Inkarnation Spidermans die
Gebäude um den Tahrirplatz, wo sie die schwarze Flagge mit dem weißen
Anarchiezeichen hissten. Heute lacht Ibrahim Daoud über die alten Zeiten.
„Wir haben das ganze Land gegen uns aufgebracht.“ Die Gewalt sei falsch
gewesen, meint er. „Ich bin im Gefängnis erwachsen geworden.“
Und einsamer. Zahlreiche alte Freunde sind tot, im Gefängnis, im Ausland –
oder sie sind keine Freunde mehr. Nach der Haft hat Ibrahim Daoud erfahren,
dass er von Leuten aus der Gruppe verraten worden ist. Er kennt Geschichten
von Männern, die herausgefunden haben, dass ihre Frauen sie an den
Geheimdienst verraten haben.
Seine Freunde sucht er sich heute sorgsam aus, erklärt er in einem
Kaffeehaus in der Kairoer Altstadt. Daoud vermutet, dass er überwacht wird,
weswegen dies auch nicht sein richtiger Name ist. Einen Button zu tragen,
ist das einzige, was er sich an Aufmüpfigkeit leistet. Er möchte 2016 sein
Ingenieurstudium beenden und heiraten.
Einen seiner neuen Freunde hat er auf der Universität kennengelernt. Er ist
nur vier Jahre jünger als Daoud, und doch verläuft zwischen ihm und dem
ehemaligen Anarchisten ein tiefer Graben. Für die Revolution hat der Freund
nichts übrig, der sich zu Daoud an den Tisch setzt. „Ihr hättet besser ein
Kondom benutzt“, sagt er und vergleicht die Frucht der revolutionären Mühen
mit einem missratenen Kind. Daoud erträgt es mit Fassung.
„Ich kann ihm vertrauen“, sagt er. Und sie würden über vieles ähnlich
denken – außer über Politik. Während Daoud raucht und über die Fehler der
Revolutionäre räsonniert, zückt der Freund einen Block und fängt an zu
zeichnen. Seine Art, höflich zu bleiben. „Die wahre Freiheit liegt doch in
uns selbst“, sagt er und setzt mit einem Grinsen hinzu: „Ich glaube nicht
mehr als Gott.“
## Der Geheimdienst hört mit
Eine tickende Bombe sei die ägyptische Jugend, stöhnt Mohammed Mohsen.
„Wenn sie explodiert, werden die Jungen alles niederreißen, ohne zu wissen,
was an die Stelle des Alten treten soll.“ Der ehemalige Tahrir-Aktivist,
27, Anzug und Verlobungsring, arbeitet als Maschinenbauer in einer Ölfirma.
Er trifft sich noch regelmäßig mit Gleichgesinnten. Wenn sie in einem
Straßencafé sitzen, könnte der Geheimdienst am Nebentisch einen Tee
schlürfen. Auch Mohsen verrät deshalb seinen wirklichen Namen nicht. „Ich
habe Angst vor der Angst“, sagt er. Den Gedanken an Verhaftung und Folter
verbietet er sich. Einen revolutionären Untergrund in Ägypten gebe es eh
nicht mehr.
Von einem Versagen der Revolutionäre 2013 und danach will Mohsen nichts
hören. Kritikpunkte gibt es viele: Sie seien 2011 planlos losmarschiert,
hätten 2013 die frei gewählte Regierung der Muslimbrüder bekämpft, statt zu
erkennen, dass die Armee der Feind ist, um dann vor deren Repressionen
zurückzuweichen. Argumente, die Mohsen nicht gelten lassen will. „Wir
hätten einen Krieg riskiert“, sagt er. „Wir müssen warten“ – warten, …
das Regime von Präsident al-Sisi zusammenbricht.
Ist das Regime am Ende?
Mohsen glaubt, dass dies bald geschehen wird. Er deutet die Zeichen: die
hilflosen Reaktionen auf den Flugzeugabsturz über dem Sinai, das
Zusammenbrechen der Infrastruktur in Alexandria: „Das Regime steht beinahe
nackt da.“ Auch die geringe Wahlbeteiligung entzieht dem Regime weiter
Legitimation. Und das hohe Finanzdefizit Ägyptens wird – noch – von
Saudi-Arabien ausgeglichen.
Vielleicht fantasiert sich Mohammed Mohsen eine nahende dritte Revolution
herbei. In einem Atemzug spricht er vom Umsturz und äußert dann wieder
seine Furcht vor der Jugend, die an nichts mehr glaubt, auch nicht an die
Revolution. Er hofft, dass es der Generation vom Tahrir gelingen kann, die
Alten und die ganz Jungen wieder zusammenzuführen. Auch die Älteren hätten
sich durch die Revolution verändert, sagt er, sonst könnten sich die Jungen
gar nicht so auflehnen. „Viele haben ein schlechtes Gewissen, dass sie
ihren Kindern nichts anderes bieten können als dieses Leben. Mein Vater war
gegen die Revolution. Jetzt schimpft er jeden Tag gegen die Regierung.“
Die erzwungene Abstinenz von der Politik haben viele Ägypter genutzt, um
sich Wissen anzueignen. „Wenn ich heute Facebook aufmache, diskutieren die
Leute über Einsteins Relativitätstheorie. Das hätte es vor der Revolution
nicht gegeben.“ Auch daran glaubt er, dass niemand in Ägypten den
revolutionären Geist wieder zurück in die Flasche bekommt. Mohsen hat sich
Hoffnung bewahrt unter all den Hoffnungslosen.
20 Nov 2015
## AUTOREN
Cedric Rehman
## TAGS
Ägypten
Abdel Fattah al-Sisi
Muslimbrüder
Philosophie
Ägypten
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